#Tag 12: das mentale Ding und die Apokalypse

Ich habe bis 11:00 Uhr einen wichtigen beruflichen Termin und habe mir deswegen gestern ein günstiges Einzelzimmer gegönnt.

Luxus pur! Ein Zimmer mit eigenem Bett und Bad ♥️

Ich stehe zeitig auf, verpacke meine Utensilien und die inzwischen getrocknete Wäsche in den Rucksack und bereite parallel meinen beruflichen Termin vor. Startklar & marschbereit mit geschnürten Wanderschuhen, vollständig getaped und dem ungebändigten Tatendrang zu Laufen sitze ich beim Gespräch im Badezimmer zwischen Dusche und Toilette. Warum? Ist doch klar, denn nur hier gibt es ungestören Empfang.

Nachgelagert geht es zum wohlverdienten Frühstück in der Herberge und es gibt leckeren Kaffee, Brötchen und Croissant.

Wohl gestärkt geht es weiter zum „Servico Riojano de Salud“ da ich jegliche Entzündung und damit den vermeintlichen Totalausfall durch eine Blutvergiftung präventiv ausschließen möchte. Dort angekommen muss ich eine Stunde warten und mir läuft die Zeit für meinen Weg davon. Ich will heute – trotz Regen – die Standardpilgerroute dieser „Etappe“ hinter mich bringen.

Am Empfang spricht man spanisch, aber man versteht mich mit Händen und Füßen und ich bekomme eine Zimmernummer mit Uhrzeit zugewiesen. Damit sie mir nicht versehentlich den Fuß amputieren, übersetze ich schon mal meine Geschichte auf spanisch, da ich schnellstmöglich zurück auf den Weg möchte.

Ergebnis: alle Maßnahmen von meinen virtuellen Freund:innen waren perfekt – alles Bestens! Keine Bandagen mehr, nur noch die einstige Wasserblase hat noch einen Rest an Schwabbel behalten. Der Rest meiner immer noch namenlosen Freunden ist vorbildlich gedörrt. Entsprechend geht es weiter, die nächsten Medikamente (Mercromina ein antiseptisches Mittel das die Blasen sehr schnell austrocknet) in der Apotheke kaufen, damit ich bald als portabler Pharmastand aus dem Rucksack Medikamente in Einzeldosen an vorbeiziehende Pilger verkaufen kann.

Um 13:40 Uhr geht es endlich los und erst mal an auf dem Felsen nistenden Klapperstörchen vorbei. Ich starte zu der Zeit, wo ich üblicher Weise in meiner Herberge ankommen würde. Und ja, ich möchte immer noch unbedingt ca. 22,5 km nach „Santo Domingo de la Calzada“ wandern, um dort in die Gemeindeherberge mit über 250 Betten zu übernachten.

Klapperstörche nisten auf der Spitze des Felsen und geben mir den Takt vor

Ich laufe mit maximaler Geschwindigkeit und halte das Niveau – zumindest die ersten sechs Kilometer. Dann ist Zeit für eine kurze Pause auf der wohl einzig trockenen Bank im Dorf. Anschließend geht es – sagen wir mal bedingt motiviert – bei Regen weiter in die Weinberge.

Gestern noch habe ich mich über lehmigen Boden gefreut, da er die Füße schont. Heute habe ich genug davon, danke! Er klebt nass, gefühlte Meter hoch unter meinen Füßen – und so hat mir Mutter Natur quasi die biologisch abbaubaren Highheels zu meinen Nylonsocken verpasst.

Nicht sonderlich schön, aber – sagen wir mal – wenigstens besonders herausfordernd. So eile ich mit schwerem Schlamm unter meinen Füßen mit Gegenwind und Regen der Erschöpfung entgegen. Ein schier endloser Weg gegen den Wind. Alle Meter schaue ich ernüchtert auf mein Navi und erlebe den Fortschritt – nur eben in Zeitlupe.

Noch ein wenig traumatisiert vom ersten Tag, laufe ich mit großem Respekt einer Steigung von weniger als 260 Höhenmeter am Ende meines Weges entgegen. Der Weg zieht sich wieder wie Kaugummi – nur mit gefühlt maximaler Geschwindigkeit – da mir die Steigung kurz vor dem Ende wie Blei im Nacken sitzt. Wieder eine mentale Blockade – doch es geht höher, höher, höher und höher. Ich denke ehrfürchtig: wie schlimm vermag nur die letzte große Steigung sein? Es sind immer noch 6 km bis zum Ziel.

Ich bin am Ende, kann und mag nicht mehr und plötzlich kommt ein Aussichtsplatz, der mich mit dem einzig trockenem Platz im Windschatten eines Baumes zur Rast einlädt. Ich trinke etwas und spüre wie die Kälte in mich zieht.

Ich mache rast und will mir im nächsten Dorf ein Taxi nehmen – die Steigung zum Finale setzte ich dieses Mal aus – und der Gedanke der Vernunft gibt mir Kraft. Mit dieser Motivation sehe ich mir die geleisteten Höhe meiner bisherigen Wanderung an und mein Herz beginnt wieder zu schlagen, es schöpft neue Energie. Die zurückliegende Steigung war das Problem kurz vor Schluss. Ich werde die restlichen sechs Kilometer laufen – ich werde gewinnen!

Plötzlich vorbei – das mentale Ding!

Gegen 17:23 Uhr betrete ich das letzte Dorf vor dem Ziel und bemerke nach einer Weile, dass alle – wirklich alle – Rolläden des Dorfes herabgelassen sind. Und das obwohl noch 2 Stunden bis zum Sonnenubtergang verbleiben.

Ich laufe weiter und stelle fest, das nirgendwo ein Licht brennt und auch kein Mensch zu sehen ist. Eine Zombiestadt nach der Apokalypse? Nein, der einzig valide Beweis, dass es doch noch Überlebende gibt, sind Golfer die aus einem regengeschütztem Verschlag heraus ihre Bälle in die Ferne klopfen. Ein wenig weiter zielt ein Kind von der anderen Straßenseite mit seinem Golfball und Schläger auf mich und ich beschließe lieber schnell weiterziehen, bevor ich die Treffsicherheit des vermeintlich Untoten am eigenen Leib verspüren muss.

In der „Albergue“ angekommen wird flott ausgepackt und ich folge gegen 19:30 Uhr den Essenstipps meiner dortigen Pilgerkollegen. Das erste Restaurant hat inzwischen geschlossen, das zweite auch. Es gibt Bars, lasse ich mir von einem weiteren Restaurant das noch im Aufbau ist sagen, die finde ich jedoch nicht. Also weitersuchen … nichts … und so setze ich mich in ein Nobelrestaurant und warte bis 20:00 Uhr, denn dann soll angeblich ein Restaurant in der Nähe der „Albergue“ öffnen. Und siehe da – plötzlich sind mehrere Lokalitäten just in der Nähe der Herberge geöffnet und ich bekomme ein dreistufiges Pilgermenü – mit einer Flasche Wein (15,00 Euro).

So komme ich (un)dankbar für die überflüssigen Kilometer, aufgrund ungepflegter Öffnungszeiten bei Google, in der Herberge an und stoße gerade noch rechtzeitig zur Geburtstagsfeier einer Spanierin, die mir seit gestern immer wieder mit ihrem Freund begegnet. Also sitzen wir beisammen, zwei Vietnamesinnen, ein Mexikaner, ein Spanier und das Geburtstagspaar und feiern.

Von meiner lieben Familie ♥️ habe ich heute Morgen ein wunderschönes sehr passendes Gedicht zugeschickt bekommen und das muss ich mir nochmal vor der Nachtruhe einverleiben. Danke für die Muse! Ich will es zum Abschluss des Tages dem alten Olivenbaum widmen:

Gestutzte Eiche (heute: Olivenbaum)

„Wie haben sie dich, Baum, verschnitten
Wie stehst du fremd und sonderbar!
Wie hast du hundertmal gelitten,
Bis nichts in dir als Trotz und Wille war!
Ich bin wie du, mit dem verschnittnen,
Gequälten Leben brach ich nicht
Und tauche täglich aus durchlittnen
Roheiten neu die Stirn ins Licht.
Was in mir weich und zart gewesen,
Hat mir die Welt zu Tod gehöhnt,
Doch unzerstörbar ist mein Wesen,
Ich bin zufrieden, bin versöhnt,
Geduldig neue Blätter treib ich
Aus Ästen hundertmal zerspellt,
Und allem Weh zu Trotze bleib ich
Verliebt in die verrückte Welt.“

(Hermann Hesse)

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