#Tag 18: Mittelfinger für falschen Ehrgeiz

Meine Wasserblasen heilen und jucken die ganze Nacht und ich schlafe trotz Einzelzimmer sehr unruhig. Ich stehe gegen 8:00 Uhr wie gerädert auf und merke, dass mein linkes Schienbein sich anders anfühlt. Das Bein ist kaum noch geschwollen, dafür fühlt es sich innen an, als wäre es nicht zugehörig. Wie ein hartes, unbewegliches Element innerhalb meines Körpers. Vermutlich spüre ich den Übeltäter persönlich – die einzelne entzündete Sehne an der Knochenhaut – das Luder!

Statt zu meinem Körper zu finden, entwickle ich mich quasi rückwärts. Meine Fußsohlen fühlen sich nicht zugehörig an, Schienbein ebenso. Wenn das so weitergeht werde ich mich von innen heraus zu einem neuen Menschen wandeln. Geht also auch so 🤣.

Ich möchte nicht länger ruhen und überlege welche Entfernung ich heute gehen kann. Wenn ich die ausscheidenden Pilgerfreunde treffen möchte, dann müsste ich heute 1,5 Tagestrecken gehen. Das wären 30,2 km – eigentlich machbar – aber nur eigentlich.

Falscher Ehrgeiz – Wunsch meiner Gedanken: 30,2 km.

Allerdings spricht das Höhenprofil dagegen – zu viel Anstrengung durch Steigungen und Abstiege. Das wäre Selbstzerstörung für meine Sehne und daher werde ich nur eine Wanderung von nur 9,6 km machen. Es ärgert mich, ich möchte gerne etwas weiter gehen, aber alle Herbergen im nachgelagerten Dorf (15 km) haben wegen Corona geschlossen.

Die Realität: ein Steinwurf entfernt: 10,2 km.

Ich wandere bei 4 Grad mit Winterjacke und kurzen Hosen los (dank Zip-off Hosen kein Problem). So lässt sich mein Schienbein neben dem Kühlgel mittels nachhaltiger Windenergie zusätzlich kühlen. Ob es hilft – ich weiß es nicht.

Natürliche Kühlung, läuft!

Ich laufe mit durchschnittlich 4,5 km/h – das ist für mich mit Rucksack recht gut. Allerdings werde ich laufend von anderen Pilgern überholt. Sie bleiben natürlich auch nicht überall stehen, entdecken nicht all die kleinen, schöne Dinge am Wegesrand und müssen auch nicht alle paar Meter Fotos machen. Ich frage mich, ob die zwei Italiener gerade auch das Reh gesehen haben? Trotz dieses Bewusstseins ist es für mich frustrierend immer langsam zu sein.

Ich frage mich, was ist normal – die Langsamkeit, die laufende Dokumentation, wie auch mein Blog hier – oder einfach nur den Weg für sich selbst zu gehen. Die „Roadrunner“ ziehen ihren Weg durch, dokumentieren ausschließlich mit ihrer Erinnerung und die ist vergänglich – auch teilen sie ihre Erfahrung nicht. Aber was ist die richtige Mischung? Ich weiß es nicht.

Als gefühlt „Getriebener“ ertappe ich mich immer wieder dabei, wie ich zurückblicke und schaue ob der nächste Pilger naht um mich zu überholen. Das treibt mich unnötig „schnell“ voran, denn ich habe bei den wenigen Kilometern wirklich keine Not. Ich sollte besser mein Schienbein schönen. Aber ich kann es nicht lassen, ich lasse mich – unnötig – von meinem Inneren treiben!

Meinem Ehrgeiz zum trotz mache ich erst mal eine Pause. Währenddessen kommt ein Mann aus Norwegen vorüber und frägt mich, ob alles gut bei mir sei. Ich sage „ja“ und erzähle von meinem kleinen Maleur am linken Schienbein. Auch er meint, dass es völlig normal sei, dass man eine Knochenhautentzündung auf dem Camino bekommt. Es sei ungefährlich, kann aber sehr Schmerzhaft werden und die Ursache liegt – wie Heidi schon sagte – darin, dass ich zu wenig trinke. Die Knochenhaut und das Schienbein trocknet dadurch aus, sagt er.

Ich trinke zur Zeit knapp zwei Liter und werde das Volumen nochmals steigen – 1 Liter auf 5 Kilometer sind mein neues Ziel (zum Glück Wasser und kein Benzin). Ich nehme also mein Ingwer-Wasser und eine Dose Monster und setze an – Prost!

Ob ich meinen falschen Ehrgeiz fürs Wandern auf dem Camino ablegen werde oder ob er Teil meiner Persönlichkeit bleibt? Wir werden sehen.

Ich schreibe der „Hospitalera“ Heidi einen Zwischenstand über mein Schienbein und dass ich ab morgen wieder Vollgas geben möchte. Sie meint: „Genieß den Weg, schau links und rechts und nimm Dir die Zeit, die Du brauchst! Ich glaube mit Vollgas bist du bisher im Leben unterwegs gewesen …!“. Damit hat sie völlig Recht. Sie rät mir daher „Nimm Dir die Zeit, die Du brauchst und sieh es als beste Investition in Dich selbst!“ und dann nennt sie mich vermeintliche Schnecke einen „Formel1-Pilger“ der gerade im „Safety-Car“ sitzt und meint „… du weißt, überholen führt zur Disqualifikation!“. Die Metapher ist so deutlich, wie ich es brauche – Danke!!

An der Herberge angekommen. „High Noon“ – ist auch zu früh!

Um 12:00 Uhr Mittags treffe ich an der städtischen Herberge in „Hornillos del Camino“ ein, ich will eintreten und muss erfahren, dass ich eine Stunde zu früh angekommen bin. Ich muss warten. Ein willkommener Mittelfinger an meinen Ehrgeiz – das musste so sein und ich schmunzle kräftig in mich hinein – und so „büße“ ich meinen falschen Ehrgeiz bei einem Kaffee mit Ingwer-Wasser in einer Bar ein.

13:03 Uhr starte ich einen neuen Versuch – dieses Mal mit Erfolg. Der freundliche Mann am Empfang erzählt mir seine Geschichte der Entschleunigung: er lebt im Sommer in Ibiza auf der Insel „Formentera“ und verkauft am Strand Ohrringe und Schmuck. Dort besitzt er ein kleines Haus. Im Winter ist auf der Insel alles geschlossen und daher reist er auf den Jakobsweg. Dort arbeitet er in öffentlichen Non-Profit-Herbergen als Voluntär, d.h. er arbeitet ohne Bezahlung und bekommt im Gegenzug Unterkunft und Proviant gestellt. Er geniest sein Leben jeden Tag, er putzt und macht Frühstück für die Pilger und wandert nach 16:00 Uhr vor sich hin. Seine Ausstrahlung lässt sich an Sympathie, Entspannung und erfülltem Leben kaum überbieten.

Nach diesem interessanten Gespräch gehe ich Duschen. Meine heutigen, beiden Zimmergenossen – die zwei Roadrunner aus Italien – liegen schon im Bett, schlafen tief und furzen – danke!

Aber gut, was macht das für einen Sinn, sie stehen früh auf, rennen die Strecke ab, um dann den halben Tag zu verschlafen. Hatte ich nicht letzt geschrieben, dass man seine Ressourcen weise einsetzen soll? Dieses Bildnis der Roadrunner rundet auf jeden Fall meine Erfahrung für heute ab – danke liebes Karma für diesen großartig langsamen Tag.

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