In Spanien misst man offensichtlich mit unterschiedlichem Maß, denn wir kommen immer wieder an Pilgermarkierungen am Wegrand vorbei, die die Entfernung bis zur Kathedrale von „Santiago de Compostela“ zeigen. Allerdings zeigen sie mal mehr und mal weniger Kilometer bis zum Ziel – und ja, die Marschrichtung ist konstant und ich gehe auch in die richtige Richtung.
Auf jeden Fall ist heute Halbzeit der geplanten 42 Tage. Laut den gelaufenen Kilometern dürften es noch 390 km bis zur Kathedrale sein, laut Anzeige in der Herberge sind es 405 km und im Dorf zeigt man noch 442 km. Was denn nun?
Aber im Grunde ist es mit den Kilometern auch egal, denn das Risiko liegt nicht im Mittelpunkt des Weges, sondern verlagert sich zum Südpol meiner Route und konzentriert sich auf die letzten 5 Wandertage.
Die Kandier aus unserer Gruppe haben bereits die Herbergen für die letzten 100 Kilometer gebucht. Das klingt verrückt, denn sie haben sich damit jegliche Flexibilität genommen und so stellt sich die Frage nach dem „warum“? Sie erzählen von einem drohenden Engpass der Herbergen vor „Santiago de Compostela“.
1. Zur Ostermesse möchten viele Pilger die Kathedrale von Santiago besuchen und zudem gibt es dieses Jahr ein großes christliches Fest.
2. Damit die Spannung am Anschlag bleibt, wird die Situation dadurch verschärft, dass in Spanien Feiertage an einem Sonntag, auf die folgende Arbeitswoche verschoben werden. Somit gibt es für alle Spanier an Ostern eine lange, freie und damit sehr reizvolle Pilger-Woche.
3. Um die Urkunde der „Compostela“ zu erhalten muss man keine 820km wandern. Es reichen letztendlich die letzten 100 Kilometer insofern man diese brav mit zwei Stempel pro Tag belegt – quasi ähnlich dem Bonusheft beim Zahnahrzt. Hat man am Ende einen zu wenig, ist man raus und bei diesen Stempeln setzt das dritte Risiko an.
Es gibt einen Tourismuszweig, der sich gegen Entgelt darauf spezialisiert hat, ganze Busse voll Möchtegernpilger von Herberge zu Herberge zu fahren, damit diese ihr Stempelheftchen füllen können. Da die Busse i.d.R. vor den Wanderern ankommen, nehmen sie deren wohlverdiente Ruhestätten weg.
Jetzt stelle man sich vor, dass eine Menschenschlange aus echten Pilgern wie erschöpfte Zinnsoldaten in einer Reihe steht. Nun gebe man die gesamten Pilgerfamilien der Spanier hinzu und addiert dann noch die Busreisenden Betrüger, die sich gierig und ungeduldig vom Parkplatz einschleichen. So bekommt man in etwa eine Vorstellung wie das Finale verläuft.
Nach 700km Wanderung gibt es sicherlich schönere Momente als die letzten 5 Tage auf dem Jakobsweg in einer supermarktähnlichen Schlange zu pilgern. Auch wenn man sich dort nur geringfügig drehen muss, um neue Lebensgeschichten, Erfahrungen und damit Perspektiven zu erfahren. Der bisherige Weg ist sicherlich attraktiver.
Aber was bedeutet es nun für mich? Ich müsste buchen (Herbergen und Flug) oder noch besser vor dem Wanderstau die letzten 100 km absolvieren. Aber es ist für mich noch nicht planbar (siehe nächste Zeilen) und eine Beschleunigung oder Hetze ist auch nicht vorteilhaft, denn die wird definitiv mit neuen Blasen bestraft. Ich werde in 100 Kilometern bei Leon entscheiden.
Meine Knochenhautentzündung ist dank der elastischen Binde nicht mehr spürbar – Problem gelöst. Vielleicht hat auch die Salbe geholfen oder aber die zwei Portionen Reiki. Oder alles zusammen. Egal!
Für den Merkzettel: Sehnenproblem, Knochenhautentzündung oder auch „Shin Splints“ genannt - fest sitzende elastische Bandange - fertig!
Heute ist dennoch nicht mein Tag. Ich komme nach nur 19,5km mental wirklich angeschlagen in der Herberge „Carrión de los Condes“ an. Meine unteren Gliedmaßen spielen mit mir offensichtlich Staffellauf. Kaum ist ein Problem gelöst, ist das nächste am Start.
Heute freue ich mich über ein schmerzfreies Bein und zack – da sind sie wieder, meine Wasserblasen unter dem Ballen. Die alten wurden vor Wochen erfolgreich zurückgedrängt und jetzt wollten sie doch ans Tageslicht.
Damit sie nicht so einsam sind haben sie das nebenstehende Gewebe überredet und gemeinsam 3-4 Blasen am linken Ballen gegründet. Nun sind sie da, prall gefüllt und sorgen mit deren Schmerz dafür, dass ich keinen Schnerzmangel erleide.
Ich empfinde es schon fast lästig immer nur über Wehwehchen zu schreiben, aber es tauchen ständig Neue auf. Den Rest kennt ihr im Grunde schon.
Ich gehe wie üblich ins „Centro de Salude“, möchte dort eintreten und stelle fest, dass die Türen fest verschlossen sind. Die Öffnungszeiten sind 24h an jedem Tag der Woche. Das Licht ist aus und kein Mensch ist zusehen und das fühlt sich nicht gut an. Zumal ich mich mit den ungeschützten Blasen hierher geschleppt habe. Ich klingle, klopfe, rüttle an der Tür – kein Erfolg.
Ich gebe auf und versuche es nach dem Abendessen nochmal (wir suchen im Übrigen 1h lang verzweifelt nach einem geöffneten Restaurant). Gegen 21:30 Uhr lerne ich, dass es strickte Öffnungszeiten für Wasserblasen gibt. Um 12:00 Uhr zu Mittag und abends um 18:00 Uhr genau vor dem Sandmännchen. Ganz nach dem Motto „guten Mittag Herr Blase“, vielleicht aber auch nicht, denn mit den Öffnungszeiten nimmt man es in Spanien absolut nicht genau. Schon garnicht während einem Fußballländerspiel …
Morgen Früh wird entschieden, wie es weitergeht.
Buen Camino ♥️