Um 6:30 Uhr geht mein Wecker und ich stehe auf und fühle in meine Füße hinein. Die rechte Wasserblase am Fersen war eigentlich verheilt, fühlt sich inzwischen empfindlich an – da wird sich doch wohl keine Entzündung einschleichen? Der Ballen ist unverändert und ich mache Fotos, denn sehen kann ich die Wasserblasen an der Stelle nicht. Zur Einschätzung der Gesamtsituation werfe noch einen Blick in die „Camino-Ninja App“ und muss feststellen, dass in den nächsten Ortschaften und auch am Tagesziel „Terradillos de los Templaroos“ in 26,4 km keinerlei Gesundheitszentren oder Ärzte ansässig sind. Daher entscheide ich mich zu bleiben und zur Mittagszeit mit meinen Blasen vorstellig zu werden.
Ich schreibe Astrid eine Whatsapp und teile ihr mit, dass sie mit dem anderen niederländischen Pärchen leider alleine weiterziehen muss und bedanke mich für die gemeinsame Zeit. Sie hat mir viel von sich und ihrer Familie erzählt und auch ich habe von meiner Vergangenheit geplaudert. Es wahren tolle Gespräche die zum Nachdenken angeregt haben – dafür ist er da der Camino – danke liebe Astrid!
Was mich am Meisten aus unseren Gesprächen beeindruckt hat, ist die Notwendigkeit des Inneren „ICHS“, die Geschichte, Situation und Motivation der eigenen Eltern zu verstehen. Sie sagt, „nur wenn man mit den Eltern oder Menschen die einem wichtig sind, zu deren Lebzeiten über die Dinge und Fragen spricht, die einem wichtig oder unverständlich sind und ggf. die Beziehung nachhaltig emotional beeinflussen, kann man die Motivation und/oder die Situation dahinter verstehen und damit Frieden schließen.“ Spricht man nicht darüber, wird es keine befriedigende Antwort geben.
Das klingt logisch und ich bin sicher jeder von uns kann in seinen tiefen Windungen des Gehirns ein paar Fragen zu seiner Kindheit oder sich selbst finden, die des klärens Wert scheinen. Oder?
Ich gehe Frühstücken und kann endlich wieder – wenn auch nur kurz – mit einem Teil meiner Alsdorfer Familie telefonieren. Ich vermisse sie sehr und es ist ein komisches Gefühl zu sehen, wie schnell sich mein kleiner Paulemann weiterentwickelt. Auf einem Foto sehe ich wie seine liebevolle Schwester ihm hilft, einen dicken Ast zu tragen – wunderschön. Danke liebe Noemi, du bist ein tolles großes Mädchen und danke, dass du deinen Paul so sehr liebst ♥️.
Ich freue mich darauf, sie alle endlich wieder in die Arme zu schließen und wir beratschlagen die Optionen für meinen Heimweg. Alle Flüge aus „Santiago de Compostela“ sind an Ostern überteuert – die beste Option wäre es, wenn ich (erst nach Ostern) an meinem Geburtstag heimreise. Die überschüssige Zeit könnte ich meiner Langsamkeit gönnen oder noch bis ans Ende der Welt wandern – Finistera!
Gedacht, besprochen, getan – ich fliege an meinem Geburtstag von Santiago nach Amsterdam und werde dort von meiner besten Alsdorfer Familie der Welt aufgegabelt. Ein Wiedersehen – das schönste Geschenk das man sich wünschen kann. Vorab jedoch zurück in die Realität des Caminos.
Das im Ort ansässige Gesundheitszentrum hat keine guten Bewertungen im Internet und auch von außen ist es wenig einladend. Aber ich brauche eine Lösung für die knackig gefüllten kleinen Wasserblasen an meinem Beinfortsatz. Heute habe ich mehr Glück – die Pforten sind geöffnet – und das 23 Minuten vor 12:00 Uhr. Die Wartezeit kann sich mit sechs Minuten sehen lassen.
Eine ältere Dame wird vor mir behandelt, sie hat wirklich Schmerzen und dagegen sind meine selbstverschuldeten Hautabhebungen reine Peanuts! Die Blasen werden aufgestochen, manuell entleert und dann frisch in Sterilität gehüllt – ein Akt in 5 Minuten. Zur Sicherheit frage ich anschließend angespannt nach – alles gut, ich kann weiterlaufen – aber neue Schuhe sollte ich mir gönnen – 1,5 Größen mehr darf es sein. Die alten Schuhe werden geschnürt, der Rucksack gesattelt und los gehts!
Ich laufe eine ¾ Tagestour mit knapp 19 Kilometer. Es geht eine lange gerade Strecke an der Straße entlang, dann gerade aus, gerade aus ins Feld und dann zur Abwechslung schnurgerade ins Ziel. 19 langweilige, Kilometer – aber dennoch schön.
Ich mache viele Pausen, teile mir das Wasser ein und gönne meinen Füßen alle 5 Kilometer frische Luft. Ich spüre meine Füße, wie sie kribbeln und aufathmen, sich ausdehnen, sobald sie in Freiheit gelangen. Der Fokus meiner Sinne liegt auf dem Fuß und das ist nicht gut, denn zu viel Achtsamkeit macht sich mit gesteigertem Schmerzempfinden bemerkbar.
Die letzten 4 Kilometer werden die Hölle und ich lenke mich mit einem Hörspiel ab. Dann wieder Pause, weiterlaufen und bei der nächsten Sitzmöglichkeit unter einem Verschlag kommt – ich kann nicht mehr – die letzte Pause des Tages.
Und plötzlich, ich kann mein Glück nicht fassen, höre ich ein Auto auf dem Schotterweg. Das erste Auto des Tages – auf meinem Weg. Schnell die Schuhe an, den Rucksack dürftig auf die Schulter gepackt und los zum Feldweg.
Ein weißer Toyota Pickup kommt angebrummt, Staubwolken begleiten ihn und ich bin sicher, dass er mich die letzten drei Kilometer mitnimmt. Wo soll er auch anders hin, es geht nur gerade aus. Er kommt immer näher und ich will gerade meinen Daumen zücken, als er direkt vor meinem Verschlag rechts querfeldein ins Feld entschwindet. Er fährt eine Abkürzung durchs Gelände, tiefe Pfützen, er schlingert ein paar mal hin und her, er hat Spaß – und weg ist er.
Schade, das wäre toll gewesen. Aber es gibt keine Wahl, weiter gehts mit starken Schnerzen an den Füßen und so laufe ich die letzten Meter humpelnd wie eine Geisha mit künstlich verjüngten und verkrüppelten Füßen auf dem Strich – meines Weges – geradewegs zur Herberge.
Es wird ausgepackt, flott geduscht, das Bett gerichtet und dann gehts zum Pilgermahl. Ich fühle mich wie frisch geboren!