Wir haben die Nacht zu dritt in einem vielleicht 15 m² großen Raum verbracht und das wird nach dem Aufstehen zum Problem. Alle packen zeitgleich ihren Rucksack und cremen Ihre zahlreichen Wehwehchen an den Füßen und Beinen ein. Ein Gedränge wie einst im Schulbus.
Ich denke derweil über meine Herausforderungen nach. Schon interessant, welch tragende Rolle die Füße einnehmen – das ganze Leben waren sie weitgehend ungeachter ein Bestandteil des Körpers. Jetzt sind sie das elementare Puzzlestück des Camino. Der linke Fuß passt nicht, vermutlich wieder Wasser in einer der Blasen. Neben dem Flies kommt nachträglich eine Schicht Schaumstoff darunter – was nicht passt, wird passend gemacht.
Wenig später sind Maria und ich auf dem Weg. Ich sage Maria – die einstige Rakete aus der Pilgerfamilie – das sie sehr gerne schneller laufen kann und nicht aus Höflichkeit sich zu meiner Langsamkeit gesellen muss. Sie schreibt mir „nein, sie ist nicht mehr die Rakete von einst, sondern hat sich den Bedürfnissen ihrer Füße angepasst“. Der Camino hat sie auch entschleunigt.
Wir laufen den ganzen Tag, geniesen die entspannte Langsamkeit, schweigen oder unterhalten uns mit Zeichensprache. Nur wesentliche Elemente werden mit Google-Translate übersetzt. Wir lachen und haben Spaß ohne uns wirklich zu verstehen – wie auch so manches Mal in einer Partnerschaft – die richtige Basis macht’s!
Wir laufen erneut entlang der Autoabgase auf Nasenhöhe und plötzlich piepst es rechts von mir. Nicht in meinem Kopf, aber in unmittelbarer Nähe. Was ist das? Kein Wanderer, ich überlege welches meiner Endgeräte oder Apps dergleiche Geräusche absondert? Mein Mobiltelefon, Uhr oder mein Airtag? Nein nichts dergleichen, es schrillt erneut laut und entpuppt sich als kleiner, lautstarker Vogel. Schade, wie sehr wir der Natur entwöhnt haben und auf elektronische Nachrichten konditioniert sind.
Endlich, heute passiert es – Weidenkätzchen und Knospen der Bäume springen auf, der Lavendel sowie Thymian am Wegesrand steht in voller Blüte und der Oregano bekommt erste Blätter. In Deutschland sind die Bäume sicherlich schon seit einigen Tagen grün. Absurd! Dabei kommt mir Tamara‘s Hand in den Sinn, sie hat sich auf dem Camino böse Frostbeulen an den Händen eingefangen. Was ist nur los mit dem Klima – Leute! – morgen soll es -1 Grad und später -5 Grad geben, wir sind in Spanien!
Es gibt verschiedene Abkürzungen, aber wir wählen den originalen „Camino Francés“. Auf ein paar mehr oder weniger Kilometer kommt es inzwischen nicht mehr an, denn bis Tagesende haben wir über 528 Kilometer zu Fuß zurückgelegt.
Die Droge „Leben“
Auf der Spitze eines Hügels gibt es ein folgenschweres Motiv für ein Foto, ein alter Wagen steht in einem Garten.
Als ich das Foto gemacht habe, sehe ich einen bärtigen Mann am Fenster – ich winke ihm zu und er zurück. Er kommt raus – „Kaffee?“. Ich antworte spontan mit „ja“ und Maria folgt mir. Der Mann begrüßt uns nochmals freundlich per Handschlag und wir wechseln die Sprache, denn er kommt aus Hamburg.
Im Haus lebt ein weiterer Mann (der Eigentümer) und sie bauen dort zusammen vor sich hin. Aus dem Kaffee wird nichts, denn es gibt nur Weis- oder Rotwein. Ok, warum nicht? Im vorbeigehen sehe ich das Geschirr im schmutzigen Spülwasser liegen und denke nur – oh Gott, was nicht tötet härtet ab.
Aber sie füllen frisches Spülwasser ein, dann gibt es frisch gespülte Gläser mit leckerem Wein und dazu eine wunderschöne Geschichte des Camino.
„Josss“ – mit drei „s“ – ist ein Portugiese aus Frankreich, der seit 40 Jahren hauptberuflicher Marionettenspieler ist. Sein Pilgerfreund „Marko“ – aus Hamburg – ist seit Juni unterwegs, er lebt offline und war zuvor Zimmermann. Er war Spezialisiert auf Fenster- und Türenbau bis er eines Tages sein altes Leben an den Nagel gehangen und gekündigt hat. Er ist im Juni letzten Jahres in Hamburg gestartet und ist ca. 2.500 km bis zum Jakobsweg marschiert. Zuvor war er in Polen, Rumänien, Kapaten unterwegs und hat sich dann über Holland, Belgien, Frankreich … bis zu den Pyrenäen hinweg gemacht. Seinen Besitz hat er seiner erwachsenen Tochter geschenkt.
Ohne Eigentum und Krankenkasse lebt er nun in jeden Tag. Ich frage ihn ob er nichts vermisst und er antwortet mit einem klaren „nein“. Er schreibt Gedichte und verdient damit Geld. Ich bekomme von ihm zum Abschied ein Gedicht geborgt – passend zu meinem Anker am Ohr – und darf es veröffentlichen – wunderschön – danke Marko!
Marko lernte Jesss in seiner Hütte kennen, er erzählte ihm, dass er einen Schreiner braucht um eine Küche und einen geschlossenen Raum zu bauen. Dazu hat er Balken von abgerissenen Häusern für die Spüle und eine alte deutsche, zerlegte Sauna für ein Zimmer.
Nun, der Zuhörer – Marko – kann alles und beschließt zu bleiben – ohne Bezahlung. Marko hilft gerne, wohnt im Zelt im Garten und bekommt Lebensmittel umsonst. Im Dorf hat sich zwischenzeitlich rumgesprochen – so erzählt Marko -, dass im Haus ein deutscher Schreiner und Tausendsassa am Werk ist und so kann er sich vor Aufträgen nicht retten.
Ein Glück, dass ich heute mit Maria unterwegs bin. Ansonsten wäre ich dort den Rest des Caminos geblieben. Jesss will Wandskulpturen bauen und wer mein Tattoostudio kennt, der weiß, dass ich es kann. Entsprechend werde ich auf dem Rückweg (?) erwartet.
Die Droge „Leben“ – was macht den Unterschied?
Beide Herren genießen das Leben und leben in den Tag hinein. Wir hingegen sorgen vor, schließen Versicherungen ab, um das was wir uns mit Fleiß erwirtschaftet haben, nicht zu verlieren. Wie so oft vergessen wir dabei das eigentliche Leben. Oder?
Ich frage mich, wer ist am Ende glücklicher? Für die Beiden ist ihr Leben ihr Lebenselexier, ihre eigene Droge oder anders formuliert, sie sind süchtig danach, sich selbst zu sein. Sie werden von ihrem Leben beflügelt. Ihr Leben ist alles was sie brauchen, um glücklich zu sein. Das ist das Leben aufs Wesentliche reduziert - leben!
Wir gehen weiter, sind beflügelt von deren Inspiration und laufen von der Straße in die lang ersehnte Natur hinein. Das musste so sein.
Wir laufen weiter und erleben ein paar Paradiesvögel auf dem nächsten Berg. Einer macht Holz, der andere liegt in der Hängematte. Der Tisch ist mit Erdbeeren, Bananen, Kiwis und Orangen gedeckt. Man kann sich gegen eine kleine Spende bedienen. Auch jene Gesellen sind zufrieden und leben ihren Tag. Tag für Tag.
Was für ein unvergesslich, wertvoller und vor allem eindrucksvoller Tag – Buen Camino!