#Tag 37: Kilometerstein 33,664

Heute Morgen schüttet es aus Gießkannen und ich habe mich für 9:00 Uhr mit James verabredet. Das war eine gute Idee, denn ab 9:00 Uhr sollte es nicht mehr regnen – natürlich 😜 – und die Massen sind weit voraus.

Nach 767 Kilometern wird die Notration aus dem Alsdorfer Kaufland verzehrt

Durch die intensive Geschmackskultur habe ich in den letzten zwei Wochen an Gewicht zugelegt – ich bin eben ein Genussmensch. Ich sehe es an meinen Backen und an meinem Bauch und möchte jetzt in die neue Realität zurückkehren und alles auf ein gesundes Maß eindampfen. Daher gibt es zum Frühstück ein Monster, zwei Äpfel und einen Powersnack.

Eukalyptusbäume sind schnellwachsend und können bereits nach 10 Jahren für die Papierindustrie geerntet werden (sonstige Bäume brauchen 30 Jahre). Der Anbau neuer Eukalyptusbäume ist jedoch seit Juli 2021 verboten. Warum? Die abfallenden Rinden verrotten nicht, sind mit Öl getränkt und steigern dadurch die Brandgefahr erheblich. Zudem senken sie den Grundwasserspiegel und rauben allen anderen Bäumen die Feuchtigkeit.

Beim Kilometerstein 33,664 km ist es soweit, ich treffe Heidi – die gute Seele aus dem Internet – erlebe sie erstmals außerhalb der Virtualität.

Als ich in ihre Herberge geführt werde, klingelt das Telefon, eine Maria reserviert für morgen einen Schlafplatz – wie sich herausstellt ist es meine Maria. Ist das nicht verrückt?

Heidi ist eine ehemalige Steuer- und Unternehmensberaterin aus Österreich, die anschließend als Friedensdienerin in Bosnien/Kroatien bedürftige Menschen unterstützt hat und anschließend auf Mallorca eine erfolgreiche Glaserei betrieben hat.

Seit 2012 wohnt sie mit ihrem Rolf – der hier zum Cowboy transformierte – in „As Quintas“ an ihrem magischen Ort. Sie nennt ihn „Tabernavella, Heidi‘s place!“ den sie mit viel Liebe im Detail nach und nach geschaffen haben. Sie verteilt hier ihre italienische Lebensfreude und leckere Speisen als Pilger-Mama an ihre Schützlinge und erntet dafür Zufriedenheit und täglich neue Lebensgeschichten.

Heidi und Rolf haben alles selbst gebaut. Jeder Tisch, die Küche, der Kamin, das Badezimmer, die Lampen, … alles haben sie mit ihren Händen selbst geschaffen. Wenn sie mit ihren Baukünsten und ihrem Latein am Ende waren, kamen zur richtigen Zeit die richtigen Pilger vorüber und so wurde die Elektrik zur deutschen Qualität und die Bäume fachgerecht geschnitten. Das Ergebnis ist wunderschön, voller positiver Energie und man fühlt sich unendlich willkommen.

Der Rest der heutigen Pilgergruppe wird den „Camino Primitovo“ mit 310 sehr herausfordernder Kilometern in 11 Tagen morgen gemeinsam abschließen

Ursprünglich sollte es keine Herberge sein, aber bedürftige Pilger bettelten immer wieder um Unterschlupf, wurden in den Privatgemächern verteilt und so sprach es sich nach und nach rum, dass hier das Glück willkommen ist. Kurze Zeit später klopften die Autoren bekannter Reiseführer an und sorgten durch dezente Hinweise in ihren Reiseführern dafür, dass der Umbau immer mehr zur Herberge vollzogen werden musste.

Und natürlich wird stets weiter gebaut, sofern es spanische Behörden nicht verunmöglichen. Denn der Jakobsweg ist Weltkulturerbe und 14 m links und rechts davon sind besonders geschützt.

Ob das Modell überall funktioniert frage ich sie? Nein, denn am Ende des Caminos gibt es viele Pilger die aus Dankbarkeit gerne etwas zurückgeben. Es ist jedoch kein Business Model (Kopfsache) sondern ihre Lebensphilosophie (Bauchgefühl). Das ist einzigartig in dieser Form.

Wir sprechen darüber, welch positive Effekte der Camino mit sich bringt und das ich auf deren Kontinuität hoffe. Ernüchternd stellt Heidi dazu fest, dass die alte Welt einen schnell wieder in ihren Bann ziehen wird. Man muss täglich sensibel auf seinen Körper achten, aktiv daran arbeiten und innehalten – wenn nicht – dann holt einen der Camino erfahrungsgemäß zurück.

Sie stellt zudem fest, dass jede Veränderung nur den ersten Schritt bedarf und sich dann der Weg von alleine ebnet. Wenn man den Weg mit seinem Kopf durchsetzen will, wird es schwer. Nur wenn man nichts erwartet, bekommt man genau das, was man braucht.

Im Kopf - sagt Heidi - lebt die Gesellschaft, nur der Bauch weiß was man wirklich braucht.

Das hört sich esoterisch an, aber ich denke daran, dass ich viele Tage eine Wolke in Herzform für meine Sany am Himmel aktiv erwartet (quasi als Test) gesucht habe – erfolglos. Dann saß ich auf einem Stein, blickte ohne Erwartung nach oben und da war das Herz … seltsam.

Ein lang gesuchtes Herz für meine Sany ♥️

Heidi erzählt mir auch von „Bestellungen beim Universum“ und ich lausche zweifelnd (Gudrun kennt dies und wird jetzt lauthals in ihren Kaffee hineinlachen). Aber sie belegt mir mit vielen persönlich erlebten Erfahrungen, dass es für sie funktioniert. So kam der ersehnte Baumschneider, ein deutscher Elektriker, ein bezahlbares Haus auf Mallorca … ihre Alpakas und das für sie perfekte Grundstück – für das sie mehrere Caminos kämpfte. Alles zur rechten Zeit. Die „Bestellungen“ schreibt man laut Heidi positiv formuliert (keine Verneinung, kein „aber“, …) auf, liest sie durch, entsorgt den Zettel und muss dann die „Bestellung“ vergessen. Ihr hat es stets geholfen. Nun, ich bin bei dergleichen Dingen der ungläubige Thomas.

Jetzt ein kleiner Themenschwenk, denn ich nutze die Zeit mit Heidi auch für offene Fragen. Z.B. was hat die Kirche mit dem Ku-Klux-Clan zu tun.

Osterprozession der Sünder – hier ein Video dazu!

Die Mitgliedschaften in kirchlichen Gemeinschaften werden in Spanien vererbt und sind dort eine Ehre. Zugehörige Sünder müssen zur Osterprozession bzw. in der Karwoche zur Buße sehr schwere Marienstatuen durchs Dorf tragen. Um nicht erkannt zu werden, müssen sie Spitze- oder Henkersmasken tragen – wir kennen sie von Ku-Klux-Clan-Masken.

Wozu sind die kleinen Häuschen auf vielen Grundstücken? Sie dienen der Trocknung von Mais und sind geschütztes Weltkulturerbe.

Die Fortsetzung des geliebten Kunstwerkes. Eine gut inszenierte Bierwerbung

Danke liebe Heidi und lieber Rolf (aus Deutschland, Solingen) für diesen unvergesslichen Tag und die wahnsinnig köstlichen Speisen. Buen Camino!


Noch eine kleine Geschichte des Weges zum Schluss des heutigen Tages.

Vor ein paar Tagen erzählte mir jemand, dass ein Mann mit zwei Hunden unterwegs ist (ich habe ihn ebenfalls gesehen). Er kommt aus der Ukraine und hat durch den Krieg sein Bauernhof, seine Kühe und sein ganzes Hab und Gut verloren. Da er nicht weiter wusste, hat er sich wohl auf den Jakobsweg gemacht. Alles was er mit sich trägt, ist sein einziger Besitz. Er sucht einen Job auf einem Bauernhof und will später irgendwann zurückkehren. Ich frage mich, was man macht, wenn man sein ganzes Hab und Gut verloren hat? Geht man dann wandern? Nun ist es eine sehr valide Option. Ich wünsche ihm und seinen Hunden alles Glück der Welt.

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