#Tag 39: da!

Um 6:30 Uhr klingeln die ersten Wecker und die Koreanerinnen und ein paar weitere Kollegen in meinem Herbergszimmer beginnen zu kramen. Sie haben die ganze Nacht in ihrer vollständigen Wandermontur verbracht – inklusive Jacke – packen hektisch zusammen und unterhalten die sechs weiteren „Pereginos“ (Kurzstreckenpilger) und mich „Pilgrim“ (Langstreckenpilger).

Der Schelm in mir überlegt bei all den Mythen, Geschichten und Unwahrheiten des Weges, ob ich auch mal Quell einer Beschleunigung sein soll.

Wie wäre es wohl, wenn ich erzählen würde, dass die Pilgermassen vor Ostern das Papier der Kathedrale für die Urkunden nahezu aufgebraucht hätten? Es seien nur noch 456 Blatt übrig und auch die Tinte ginge zu neige. Die Strecke würde zur Formel-1 Rennbahn und die Pilger würden kreischend übereinander herfallen, sich zwischen den Eukalyptusbäumen lynchen und fluchend über einander hinweg klettern – was ein Anblick. Im Ziel angekommen ständen sie dann als hoch emotionale Traube vor den Toren der Grabstätte des Apostel Jakubus – die es nun zu stürmen gilt – um irgendwo im inneren der 23.000 Quadratmeter Fläche zumindest noch ein letztes leeres Blatt Papier zu ergattern. Sie wären dann die wahr gewordene Zombieakapolypse in Santiago.

Nun, es gibt gerade kein Popcorn und keine Chips und ich will sie mit ihrer eigenen Motivation belassen. Denn das sollte genügend Beschleunigung bringen, damit ich halbwegs entspannt durchpilgern kann – und ich sollte Recht behalten. Also drehe ich mich um, will noch etwas schlafen und genieße sogleich den nächsten Wecker.

Kurz vor dem Einschlafen denke ich an den armen, verstreuten Apostel Jakubus. Durch die bischöfliche und päpstliche Anerkennung der dort gefundenen Gebeine als Reliquien des Jakobus, gilt die Kathedrale von Santiago als dessen offizielle Grabeskirche. Die armenische Jakobskathedrale in Jerusalem gibt an, im Besitz des Schädels des Apostels zu sein – schließlich wurde er dort enthauptet.

Und wo ist der ganze Rest? Muss ich nun bis nach Jerusalem weiter pilgern und währenddessen eine archäologische Grundausbildung über die VHS absolvieren?

Der Weg führt unverändert durch schöne Wälder in denen es die letzten zwei kleinen Anhöhen mit 330 Höhenmetern zu meistern gilt. Mitten im Wald verkauft ein Mann Wachsstempel für den Pilgerpass an die kleine Ansammung vor seinem Stand. Etwas später hört man die Flugzeuge, zack – das war ne Rayanair – und passiert schon bald den Flughafen von Santiago.

12 Kilometer entfernt von der Kathedrale mache ich gegen 11:00 Uhr Rast und setze mich an die Straße um den Pilgerschaulauf zu genießen. Passend zum Massentourismus tauglichem Schinkenbaguette (sie werden kleiner, ohne Olivenöl, …) gibt es Fäkalienduft aus dem Gulli. Und da kommt er des Weges – James – und zur Feier des Tages trinken wir erst mal einen Kaffee, unterhalten uns übers Abendessen (ich will Pizza) und ziehen dann gemeinsam weiter.

Ich erzähle ihm von den Gebeinen und dem Kopf aus Jerusalem. Er weiß bescheid! Offen bleibt die Frage, wie man damals einen kopflosen Körper von Jerusalem nach Santiago brachte und wozu? Wir kämpfen auf nur 800 Kilometern mit 11 Kilogramm Gepäck im Rucksack – aber ein ganzer Körper am Rücken? Noch spannender ist die Frage, wie man damals nach ganzen 600 Jahren die Gebeine (was dann davon noch übrig ist) dem Kopf in Jerusalem zuordnen konnte. Etwa so? „Oh – da hab ich glatt Beinknochen gefunden“ – aus dem off – „Klar, die sind eindeutig vom Apostel Jakubus“? Vermutlich waren es Geistliche von Akte-X oder die Autoren von „Forensische Beweise“?! Die wissen sicherlich auch bescheid.

Der erste Pilger in der Nähe der Kathedrale spricht mich fragend an: „Aachen?“ ich bin verdutzt und überlege wo ich meine Herkunft niedergeschrieben habe oder woran es erkenntlich ist. Er zeigt mir seinen kleinen Finger – den Klenkes. Ok – alles klar – ich verstehe, es ist der Pilger aus Aachen dessen Behaarung zu wunden Stellen zwischen den Beinen geführt hatte – hatte er mir einst erzählt. Ich habe ihn vor Wochen watscheln sehen, als ich selbst mit meinen Wasserblasen auf dem Weg zum „Centro de Salud“ war. Verrückt, man tauscht sich aus – man kennt sich eben.

Die Kathedrale von Santiago de Compostela – wir erreichen sie um 16:16 Uhr – sowie die umliegende Altstadt ist UNESCO Weltkulturerbe. Der Kathedralbau begann 1075 unter der Herrschaft von Alfons VI über den Resten einer wesentlich älteren Kirche aus dem 8. Jahrhundert.

James erzählte mir von einem Hintereingang der Kathedrale für Pilger – der wohl „extra für den Andrang vor Ostern freigelegt“ wurde – wo man via App mittels QR-Code seine Compostela digital vorbereiten kann. Diese Halbwahrheit hat er von seinem Herbergsvater.

In der Realität ist es ein Gebäude ca. 500 Meter entfernt wo man mittels QR-Code und fehlender Browseroptimierung mit der Eingabe der Daten kämpft. Aber irgendwann hat man gelernt, wie man die Fehler der Seite umgehen kann, wird eingelassen und bekommt die offizielle Compostela handschriftlich ausgestellt. Dazu gibt es für drei Euro eine weitere Urkunde mit Startdatum, -ort, einer (natürlich) falschen Kilometerangabe und weiteren Informationen.

Bekommt das jeder? Nein, tatsächlich wird Personalausweis sowie der Startstempel in „Sean Jean Pied de Port“ vom 06.03.2022 und Endstempel in „Santiago de Compostela“ (13.04.2022) geprüft. Da ich zwei Stempelbücher habe, brauchte ich mehrere Anläufe, bis die Dame den Zusammenhang versteht – scheint also unüblich zu sein.

Die offizielle Compostela!
Offiziell 779 Kilometer gewandert. Laut meiner Kalkulation sind es knapp 800 Kilometer, aber am Ende ist es unwesentlich. Geschafft ist geschafft!

Nach der Urkunde geht es zurück zur Kirche. Dort wird der Rucksack abgezogen und dann legt man sich zu den anderen Pilgern auf den Steinboden und geniest die Kathedrale. Stundenlang. Wunderschön – ich bin „da!“.

Eine „Peregino“-Dame auf dem Platz fragt mich, wie lange ich gelaufen sei und ich antworte mit „39 Tage“. Sie sieht mich an und bricht in schallendes Gelächter aus. Sie lacht mich aus und ich überlege weshalb es so lustig ist und ergänze „800 Kilometer“. Ihr Lachen friert umgehend ein, sie wird toternst und dreht sich beschämt weg. Ich bin wieder erstaunt – vermutlich dachte sie ich sei die 117 Kilometer von „Sarria“ für die Compostela in 39 Tagen gelaufen. Es ist eben immer eine Frage der Perspektive.

Da die Emotionalität bei Nacht sicherlich noch umwerfender ist, will ich später nochmal her. Wir gehen flott in die Kathedrale und danach essen wir handbereitete extrem leckere Pizza auf dem Sockel eines Brunnens. Dann geht es gemütlich weiter, den letzten gemeinsamen Kilometer mit James bis zur Herberge – Seminario Menor – dort trennen sich unsere Wege – für immer – denn er trifft seine Freundin und wird jetzt die verbleibende Zeit mit ihr verbringen. Für mich selbst geht es ungläubig auf das Bett – ich habe es geschafft!

Hier trennen sich die Wege mit James – in unserer Herberge „Seminario Menor“

Am Abend geht es für mich alleine in Plastikschluppen los und siehe da, wer ist auch da auf dem Platz – der Mann mit den Wunden stellen zwischen den Beinen.

Die Kathedrale ist beleuchtet, wunderschön. Hier und da fehlen vereinzelt Lampen, wen interessiert das schon. Eine spanische Musikgruppe spielt vor sich hin und die Leute tanzen. Ich genieße es!

Bevor es ins Bett geht, verlängere ich das Einzelzimmer um eine weitere Nacht. Ich will den Tag in „Santiago de Compostela“ geniesen, vor der Kirche liegen, Maria bei ihrer Ankunft im Ziel begrüßen und am Abend vielleicht in die Pilgermesse gehen. Vor allem aber will ich jetzt keine Kleidung waschen – denn morgen breche ich das letzte saubere Set an. Ich will ausschlafen und einen Tag ruhen.

Mit dieser Entscheidung habe ich meine Zukunft verändert. Ich wandere nicht nach Muxia und dann nach Finesterra sondern nur noch bis nach Finisterra – „dem Ende der Welt“.

Der Blog meiner Reise wird also weitergehen – mindestens bis zum 20.04. Buen Camino!

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