Tag 40: Paukenschlag vor Mitternacht

Eigentlich will ich ausschlafen, aber daraus wird nichts. Die umliegenden Gäste sind zu sehr damit beschäftigt ihre Zimmer zu kramen und irgendwo auf dem Flur haben sie bis nachts um 1:00 Uhr staubgesaugt und pünktlich um 7:30 Uhr fortgeführt – da hatte wohl jemand Sehnsucht nach dem wochenlangen Entzug (?).

Das macht aber alles nichts – den ich bin hier und habe es geschafft.

Nach dem Duschen wird Wäsche gewaschen, damit diese bis morgen trocknen kann. Dann geht es in die Altstadt Richtung Kathedrale. Ich möchte nochmal die Atmosphäre geniesen und vor allem Maria bei ihrem Einzug begrüßen. Nach meiner Einschätzung müsste sie gegen 12:00 Uhr ankommen.

Auf dem Weg entdecke ich, dass die Markthallen geöffnet sind, treten ein und sauge den kulturellen Unterschied, den Hauch spanische Atmosphäre gepaart mit einer Artenvielfalt der Frische in mich ein.

Als ich auf Maria in der Sonne warte kommt ein bekannter Pilger aus Norddeutschland des Weges. Ich rufe ihm zu, klatsche laut und gratulierte ihm ganz herzlich. Er hat die letzten 200 Kilometer Verstärkung von seiner Ehefrau bekommen – beide haben ihr Ziel glücklich erreicht.

Ich erinnere mich noch genau an unser fünfminütiges Gespräch vor einigen Wochen, ich saß während einer anstrengenden Matschstrecke auf einem Stein, hatte die Schuhe aus und habe ihm ein Stück von meinem Schokoladenkeks abgegeben. Er erzählte mir von seinen Blasenpflaster aus dem Edeka – er schwört auf sie und auf seine HAIX-Wanderstiefel.

Sie berichten mir davon, dass sie kurz zuvor die Begegnung mit der dritten Art hatten. Ein Taxi ist ihnen vor die Füße gefahren und eine Horde von Scheinpilgern ist ausgestiegen. Sie haben sich dann vom Taxifahrer die Prozedur zur Compostela erklären lassen.

Was für Geschichten die Taxi-Pilger wohl den Rest ihres Lebens erfinden werden, damit ihr Selbstbetrug unentdeckt bleibt? Etwa so vielleicht: „Oh, du bist den Jakobsweg gegangen, das ist ja Wundervoll. Und was hast du erlebt?“ darauf antwortet der Pseudopilgrim „Nichts, aber es war bestimmt anstrengend – hupps“.

Wie auch immer ist Maria in diesen Minuten unbemerkt vorbeigehuscht, denn ich treffe sie später auf dem Platz vor der Kathedrale. Wir fallen uns in die Arme und beglückwünschen uns gegenseitig. Damit haben alle aus der Pilgerfamilie ihr angestrebtes Ziel erreicht.

Maria ist überglücklich und legt sich auf den Boden und ich mich ebenfalls. Allerdings ein paar Meter entfernt, denn sie ist den Weg zu Ehren ihres verstorbenen Mannes gelaufen und soll ihre Ankunft in Ruhe erleben. Es ist ihr Weg.

Als ich da so liege, schlafe ich ein und als ich aufwache, hat Maria Gesellschaft. Es dauert nicht lange, bis ich Jessica – ihre Tochter – erkenne. Wie wunderbar – nun sind noch mehr unserer „Pilgrimfamila“ vereint.

Jessica ist am Morgen mit dem Flugzeug angereist und hat sich über meinen spontanen Pausentag gefreut. Wir können uns noch einmal Wiedersehen. Wir begießen unser gemeinsames Ende des offiziellen Jakobsweges mit einem Bier.

Wobei – es ist nicht das Ende!

Man sagt „die Ankunft in Santiago ist nicht das Ende des Weges, es ist nur der Anfang eines neuen Tages!“ der Weg ist nie zu Ende. Und das ist gut so!

Wie es morgen weitergeht bleibt spannend. Denn der Weg ist länger als gedacht und die Zeit zu knapp. Aber zu Zeiten des Internets tauscht man sich aus und so dürft ihr unerwartete Wendungen erwarten. Soviel vorab – ich werde neue Wege gehen.

Nach meinem Abendessen mache ich mich auf den Heimweg als mir Jessica schreibt, dass sie sich gerade aufmachen, um etwas essen zu gehen. Ich schreibe ihnen, dass ich schon auf dem Weg zur Herberge bin und sie sind enttäuscht, da sie mir noch ein Abschiedsgeschenk geben wollten. Also treffen wir uns noch spontan auf ein letztes Bier.

Auf dem Heimweg passiert es dann. Ich bleibe an einer Menschenmenge neben der Kneipe von eben stehen und erfahre, dass die Osterprozession mit den Sündern um 23:30 Uhr startet.

Ich wollte dieses Ereignis unbedingt sehen und jetzt haben sich die Zufälle so verkettet, dass ich genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort bin. Wahnsinn! Ich denke an Heidi, mit ihrer Bestellung ans Universum: „aufgeben und dann flott vergessen“.

Aber ich muss abwägen zwischen: sicher in die Herberge kommen oder das Risiko wählen, dass die Pforten alsbald für die Nacht verschlossen sind. Ich wollte diese Prozession unbedingt sehen, wähle das Risiko und schaffe es mit dem letzten Paukenschlag in die Herberge.

Osterprozession in Santiago de Compostela 2022

Auf dem Heimweg überlege ich – wie es mir geht?

Das Ende des wunderschönen langen Weges kam viel zu schnell, viel zu abrupt. Es fühlt sich auf der einen Seite ein wenig so an, als hätte man mir den Boden unter den Füßen entzogen. Ich habe meine neuen Freunde und Weggefährten verloren und auch das große, unnahbare Ziel bewältigt. Jetzt gilt es neue Ufer zu finden, in die Realität zurückzukehren, das gelernte zu bewahren und das verursacht ein wahres Wechselbad der Gefühle. Wie wird es da erst dem Mann aus der Ukraine ergehen, der nach der Compostela ins „Nichts“ zurückkehren wird?

Auf der anderen Seite freue ich mich riesig darauf, meine Familie und Freunde zu Hause wieder zu sehen. Das soll aber noch 5 Tage dauern und bis zur neuen Aufgabe morgen bleibt eben diese eine Kluft, die es zu erforschen gilt.

Ich denke es ist der Wechsel von der neuen „Komfortzone“, die des täglich gleichen Ablaufs beim Wandern, hin zu einem neuen noch undefinierten Standard. Wenn dies stimmt, dann ist es wahrlich erstaunlich, wie Groß das Streben nach Gewöhnung ist und bei diesem Gedanken beginnt es in mir zu kribbeln, der Ruf nach neuen Abenteuern. Das fühlt sich gut an!

Buen Comino!

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