Achtung Irrlicht: Agile!

Ich bin gescheitert!

Um Himmels willen, nein! Drei Ursachen für stockende Agilität und warum die Lösung in einer sechsschichtigen Zwiebel liegt!

Ich starte mit einer Metapher: Wer z.B. den Jakobsweg erleben möchte, die Wanderstiefel gemütlich vom Sofa aus bestellt, sich dabei zahlreiche Dokumentationen einverleibt und am Ende perspektivisch sitzen bleibt, der kann die Erfahrung des Weges nicht erleben. Wer den (Fort)Schritt nicht wagt, den Weg nicht eigenständig geht, der wird sich nicht reflektieren und sich nicht wandeln.

Nur dem, der sich auf die zunächst mühsame Reise macht, dem sind neue Horizonte gewiss. Nur in ständiger Bewegung, wird sich die Perspektive des täglichen Wanderns ändern – und dann, irgendwann in der Zukunft, wird man mit offenen Augen den Weg als Ziel genießen und den Jakobsweg mit all seinen Facetten lieben. Nur dem, der sich wirklich wandelt, liegt der Wandel zu Füßen.

Was bedeutet das für dein Unternehmen?

Die Lösung ist eine Zwiebel .

Agilität durchdringt ein Unternehmen so vielschichtig wie eine Zwiebel und nur all diese Ebenen machen die Zwiebel zu dem was sie ist.


Viele Unternehmen beurteilen die Agilität im Reifeprozess, zu einem Zeitpunkt, an dem der relevante Teil des Wandels nicht vollzogen oder unwissentlich gehemmt ist. Diese zweite, kraftvolle Phase mit gelebten Prinzipien, Werten und agilem Mindset wurde noch nicht erschlossen und entsprechend bleibt der Nutzen der Agilität verborgen.

Warum ist das so?

1. Agil tun
Der einfache Teil einer agilen Transformation liegt in der Implementierung von Werkzeugen und Prozessen, dicht gefolgt von Praktiken wie zum Beispiel „wir arbeiten nach Scrum“. Ohne wesentliche Veränderungen im Handeln lassen sich agile Tools einfach implementieren, sie sind für jedermann sichtbar, fühlen sich großartig an, aber deren Wert ist für die Agilität vergleichsweise gering. Entsprechend groß ist die Verlockung sich damit in der Agilität zu wiegen.

2. Agil sein
Aufwändiger wird es, sobald es um Selbstreflexion geht. Dabei wollen gewohnte Denkmuster hinterfragt, sukzessive und vor allem nachhaltig verändert werden. Hier sind wir in der relevanten Phase der Agilität angekommen. Es geht um Prinzipien, Werte und agilem Mindset. Wer diese Ebene durchdringt, verinnerlicht und lebt, der gibt den Mitarbeitern die Möglichkeit das Unternehmen zu einer lernen Organisation umzubauen. Dem der die Agilität lebt, wird die grenzenlose Innovationskraft durch testgetriebene Entwicklung zum Erfolg führen.

3. Phantasie als Getriebe
Der allgemein bekannten, fünfstelligen, agilen Zwiebel möchte ich eine weitere Zutat hinzufügen. Es ist der Motor, das Getriebe, der Antrieb, der die Unternehmen dazu befähigt, sich gänzlich zu ändern. Es ist eine Vision die Leidenschaft entzündet, gesellschaftliche Werte berührt und damit die Menschen zum unmöglichen inspiriert. Die wichtigste Zutat einer Vision kannte schon Albert Einstein „Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt“.

#Tag 45: Ultreja – es ist dein Weg

Das Wunder Camino?

Um den Camino gibt es viele Geschichten und Wunder. Die Realität ist, dass er einem jene Menschen, Ereignisse, Erfahrungen und Perspektiven bringt, die man in seiner Entwicklung im jeweiligen Lebensabschnitt benötigt. 

Der Weg - oder man selbst auf dem Weg - zieht die Veränderung an, die man sich wünscht. Man darf nicht aktiv danach suchen, mann muss beobachten und geschehen lassen. Man muss das Leben frei lassen und man muss es leben. Es ist ganz leicht!

Der Camino ist die Essenz der Agilität denn lediglich das physische Ziel und die Richtung sind grob bekannt. Die Menschen auf dem Weg, der Weg selbst, die Hürden und Hindernisse, die persönlichen Grenzen, die Nahrungsversorgung, die Pausen und die Orte zur Nächtigung sind maximal flexibel. Keine Vorschriften, keine Sicherheit und keine Gewissheit - der Camino ist das Treiben im Leben in Reinform - im hier und jetzt. Das Ergebnis, die persönliche Erkenntnis, die persönliche Innovation und Veränderung kommt abseits der Norm und des Standards - immer dann, wenn man neue Wege geht, offen und aufmerksam sein Umfeld betrachtet und bereit für Veränderung ist.

Ist der Camino magisch? Nun, jeder der mich kennt, weiß mich als „ungläubigen Thomas“ zu schätzen. Aber an diesem Punkt muss ich sagen „ja - er ist magisch“ und das auf das wesentlich reduzierte Leben - das Leben - das ist seine Magie.

Der Camino wie auch die durch ihn bereitete Transformation sind im übrigen nicht Ortsgebunden, sie beginnen mit der Entscheidung den Weg zu gehen. Die Vorbereitung, das Einwandern und die Gedanken bringen erste Veränderung indem man seine innere Komfortzone verlässt, unbekannte Wege geht und die Veränderung ermöglicht. Das Ende des Weges ist ebensowenig das Ende, es ist ein neuer Anfang!

Für mich war mein Camino etwas ganz besonderes. Eine Mixtur zwischen Sport, Grenzerfahrung, Verzweiflung, Schmerz, Natürlichkeit, tollen Menschen mit kulturellen Unterschieden und Perspektiven, leckerem Essen und täglich neuen Erfahrungen. Der „Camino Francés“ ist mein großes Abenteuer und am Ende habe ich mich selbst und das unendliche Glück in mir gefunden. Danke Camino Francés, danke Welt!

Was hat sich für mich verändert?

Am 19 Tag schrieb ich folgende Hyopthese: „… das entspricht meiner Interpretation des Caminos, wo der Schmerz und das Leid notwendiges Übel sind, um die eigene Transformation voranzutreiben. Aus der reinen Komfortzone heraus ist nicht ausreichend Weiterentwickungsnotwendigkeit gegeben. Das ist aber nur meine aktuelle Einschätzung und ich bin gespannt, ob sich dieses Weltbild am Ende des Caminos ändert.“

Ich glaube nach dem „Camino Francés“ weiterhin, dass der Camino - oder die lange Zeit mit sich selbst - einem jene Lehreinheiten bringt, die die eigene Persönlichkeit braucht um sich selbst zu finden, sich selbst treu zu sein und mit seinem „Ich“ in Harmonie zu verschmelzen.

Das Ziel und auch die Lektionen werden bei jedem Menschen anders gelagert sein. Die Erfahrung des Caminos ist also nicht zwingend mit Schmerz und Leid gekoppelt. Es ist eben mein Weg!
Ich bin nach meinem Jakobsweg kein anderer oder neuer Mensch, aber sicherlich reifer als zuvor. Ich habe gelernt die kleinen Dinge des Lebens zu schätzen und erkannt wie wenig es benötigt, um Glücklich zu sein. 

Eigentum und Besitz sind nicht notwendig, aber die bedingungslose Wertschätzung seiner selbst. Um glücklich zu sein, braucht man nur Zeit für sich selbst, muss seinen Körper respektieren und dem Leben freien und vor allem ungezwungenen Lauf lassen.
Und man muss neue Erfahrungen suchen, sein Umfeld analysieren und sich selbst hinterfragen - man muss sein Leben leben. Und wie immer im Leben wählt man zunächst nur eine Richtung und geht dann den ersten Schritt, der Rest fügt sich, wenn man es nicht erwartet.

Der Organismus des menschlichen Körpers ist zu meinem wichtigsten, großartigsten Team geworden. Meine Füße, sie waren z.B. ihr ganzes Leben ungeachtet und sind in den vergangenen sechs Wochen zu meinem Zentrum der Welt geworden. Sie verurteilten mein bisheriges Leben, brachten meinen Weg fast zum Scheitern, lehrten mich der Langsamkeit und ermöglichten am Ende meinen Erfolg. Mein Körper ist mein Organismus und hat maximale Wertschätzung und Aufmerksamkeit verdient. Ich habe durch das Caminotraining und den über 800 Kilometern Strecke auf dem „Camino Francés“ fast 16 Prozent meines Körpergewichts und Umfang verloren und fühle mich unschlagbar fitt, gesund und mein Leben ist unkompliziert geworden.

Was hat sich noch verändert? Ich wußte lange Zeit nicht so Recht warum ich diesen Blog schreibe, aber jetzt ist es mir klar geworden. In erster Linie für mich selbst, damit ich mich erinnern kann und immer wieder bei Bedarf diese kleinen Wahrheiten hervorholen kann. Ich bin dankbarer geworden und gebe meiner Familie und der Welt damit (hoffentlich) ein kleines Stück zurück. Ich mochte andere Teilhaben lassen und vielleicht durch den einen oder anderen Gedankenfunken angeregt wurden. Schön, dass ihr mich begleitet habt. Danke Camino - danke Welt!

Was würde ich anders machen?

Nun, es ist wie im normalen Leben. Man sollte langsam beginnen, die ersten Schritte mit bedacht wählen und auf die Signale seines Körpers achten und den Dingen freien Lauf lassen. 

Hohe Geschwindigkeit am Anfang wird mit physischen Schulden der Zukunft bezahlt. Wer langsam startet und den Körper langsam an die neue Lebensweise gewöhnt, der wird am Ende schneller sein und andere überholen.

Es gibt eine eiserne Regel auf dem Camino und die ist falsch - man sagt „die letzten 4 Kilometer sind immer schmerzhaft und ziehen sich stets wie Kaugummi - es gibt keine Gewöhnung“. Die Wahrheit ist, dass man bei diesem Gefühl langsam machen sollte und auf jeden Fall pausieren. Damit kann man auch die letzten Kilometer des Tages geniesen. Meine Regel lautet daher: alle 5 bis spätestens 8 Kilometer oder wenn etwas schmerzt, ausreichend lang pausieren und die Natur genießen.

Meine Ausrüstung werde ich künftig bei Decathlon kaufen, die haben sehr gute Qualität, alles sehr durchdacht und sehr günstig. 90% der Ausstattung der Pilger ist von Decathlon. Die Wanderschuhe würde ich gleich mit 2 Größen mehr kaufen und ein zweites, leichtes Schuhpaar das an keinen potentiellen Blasenstellen (z.B. Sandalen von Earthrunners) reibt.

Sobald Probleme mit den Füßen oder Beinen auftreten sollte man den Gepäckservice nutzen. Das entlastet die Füße maßgeblich und verhindert Zwangspausen. Außerdem würde ich alles entsorgen, was nicht von Nöten ist - kein Imprägnierspray, ausgediente Cremes, alles zurücklassen - das spart Gewicht. Und nicht immer so viele Sorgen machen, es geht immer weiter - wenn man nur will.

Zur Wahrung der Flexibilität sollte man keine Herbergen vorab buchen, auch keinen Rückflug und ausreichend Puffer vorsehen, denn nichts ist so Schade wie ein erzwungener Abbruch, wenn man noch nicht am Ende ist.

Bei der Auswahl der Herbergen werde ich nächstes Mal verstärkt mit dem Herzen suchen. Die Herbergen die mit dem Herzen für ihre Pilgerschützlinge kochen, „Heidi‘s Place“ oder die „Albergue La Espiral“, sie geben so viel mehr zurück als die vermeintliche Billigware die es für Schnäppchenjägerpilger in den Restaurants unter „Pilgrim-Menue“ gibt.

Herbergen in größeren Etappenzielen werden gut besucht, dort ist viel los. Interessante Menschen trifft man häufig vor- oder nach einem Etappenziel denn dort ist es ruhiger, schöner, besinnlicher und meist günstiger.

Was ist mein Tipp für jene, die den Weg gehen werden?

Ultreja - es ist dein Weg! Geht den ganzen Weg - 800 Kilometer- wenn ihr euch hinterfragen wollt, wenn ihr eure Veränderung sucht und geht den Weg alleine. 

Wenn ihr mit Partnern, Freunden oder einer frisch gegründeten Pilgerfamilie geht, verschließt oder reduziert ihr eure Offenheit gegenüber zufälliger Gespräche und Erfahrungen.

Seit gerne alleine, gehr nur in eurer Geschwindigkeit (lasst euch nicht treiben!) und seit, offen für Kontakt und behaltet stets eure innersten Werte.

Hört auf euren Körper und gebt ihm Rast wenn er danach verlangt. Sofern diese Fähigkeit noch erlernt werden muss, könnt ihr euch mit folgenden Tipps zur Behandlung von Wasserblasen oder Knochenhautentzündung behelfen.

Gönnt euch eure Auszeit um die wertvollen Gespräche zu verarbeiten und unterstützt die Anderen. Denn der Weg gibt euch so unendlich viel zurück.

Was hat dich am meisten beeindruckt?

Eine ca. 30 Jährige Dame, sie hatte aufgrund einer Krankheit ein Bein verloren und ist mit dem verbliebenen und zwei Krücken über Stock und Stein gesprungen. Sie kam nur einen Tag nach mir in Santiago de Compostela an. 

Auch beeindruckt hat mich der „Butterflyeffekt“ man trifft viele Menschen, zufällig, willkürlich und oftmals nur für Minuten und dieser Zufall beeinflussen sie den weiteren Weg und das eigene Leben. Und man sieht sie alle wieder!

Mein Körper und meine Füße. Trotz Wasserblasen, Knochenhautentzündung - es ging immer weiter und ich bin stolz darauf, dass wir (Körper und Geist) alles gemeistert haben.

Die Zuverlässigkeit des Weges - die Freundin eines wichtigen Wanderfreundes ist sechs Tage bevor wir uns getrennt haben an Corona erkrankt. Wir hatten zur ansteckendsten Phase Kontakt und haben es zu spät erfahren um Präventionsmaßnahmen zu ergreifen. Da wir mehrere Tage gemeinsam auf dem Weg waren und viele Nächte in kleinen, gemeinsamen Zimmern verbracht haben, war mein Corona-Risiko kurz vor Santiago nicht unwesentlich. Als auch mein Freund an Corona erkrankte, haben wir weiterhin die Zeit gemeinsam verbracht - denn er hätte mich schon längst angesteckt. Dieser Kelch ist an mir vorüber gegangen - so haben es mir Selbsttests bestätigt - alles richtig gemacht - dem Leben vertrauen schenken!

Was braucht man für eine Pilgerreise?

So wenig wie Möglich - möglichst nur 7kg Gepäck (mit Wasser)! 1x Ultraleichtrucksack mit Bauchgurt (400 bis max. 1kg), 3 Paar Merino-Socken, 2x Nylonsocken, 3x Funktionsunterhosen, 3x Funktions-T-Shirt, 2x Funktionshose mit Zipoff (gleiches Modell), 1x Regenponcho (der den Rucksack überdeckt), 1x Regenhose, 1x wasserabweisende Wanderjacke mit herausnehmbarem Fleecepulli, 1x Mütze, 1x Funktionshandtuch, 1x Wanderschuhe (1,5 Nummern größer), 1x Rei aus der Tube, 1x Nachfüllpack Duschgelkonzentrat (dm), 1x Sonnencreme klein, 1x Voltaren Forte klein, 12 Tabletten Ibuprofen 400 mg, 1, Reisezahnbürste, Zahnpastadrops, 1x Deoroller, 1x Omnifix, 1x Betadine, 1x Tube Hirschtalg, 1x Tape, 6x Taschentücher, 1x Ohropax, 1x Ersatzakku (Ladekapazität 1-2 Ladungen aller Geräte), kurze Ladekabel, 1x Schnelladestecker mit drei Ausgängen. Stabile Plastikbeutel um alle Utensilien im Rucksack wasserdicht zu verstauen. 2x PET-Wasserflaschen vom Discounter (1 Liter), 

Budget: Hin- und Rückreise je 150,- Euro, mindestens 30,- Euro pro Tag (Übernachtung, Essen, Trinken). 4-6 Wochen Auszeit!

Rückflug mit Wanderstöcken

Zum Rückflug mit seinen Wanderstöcken kann man seinen Rucksack einfach mit dem Regenüberzug überziehen. Die Stöcke vollständig auseinandernehmen und im Innenraum des Rucksacks verstauen, alle Schnallen zusammenziehen und fest verschnüren. Ich habe meinen Rucksack mit 13,5 Kilogramm zusätzlich mit Klebeband fixiert und dann als Gepäck aufgegeben. So ist es kein Problem - es bedarf also keiner gesonderten Reisetasche. 

Wichtig, die Antworten gelten NUR für den „Camino Francés“ denn nur er hat eine so gut ausgebaute Infrastruktur (Herbergen in fast jedem Ort, Apotheken und Restaurants). Es kann dort fast alles bei Bedarf nachgekauft werden – daher bitte keine Bevorratung denn das ist überflüssiges Gewicht und das wird teuer bezahlt.

Solltet ihr Fragen, Feedback oder Anregungen haben, so könnt ihr euch sehr gerne melden: 004915209956400 auch gerne per WhatsApp.

Was ist meine berufliche Perspektive nach dem Weg?

Der aufmerksame Leser weiß es bestimmt. Ich habe mich nicht entschieden - wozu auch - sondern werde den Dingen ihren Lauf lassen. Ganz gleich ob eCommerce, agile Transformation, Tattoos oder Bücher schreiben. Ich werde mich von meinem Weg inspirieren lassen. Mein Weg wird mir das geben was ich brauche - ich kann nun darauf vertrauen und ich werde keine Entscheidung mit dem Kopf sondern lediglich mit dem Bauch treffen. Jeden Tag erneut!

Und dir liebe Unterstützerin mittelständischer Unternehmen vom Jakobsweg, ich hoffe ihr seid gut angekommen und falls du das hier liest, dann melde dich gerne – vielleicht können wir uns gegenseitig im Support des Mittelstandes beflügeln.

Euch allen ein dickes Dankeschön 🤍

Ich möchte mich bei allen Bedanken, die diesen Blog verfolgt haben. Es freut und ehrt mich sehr, dass ich den einen oder anderen damit inspirieren konnte und ihr Spaß am Lesen hattet. So wird es – durch den Blog beflügelt, zwei Gebirgstürmer rund um Aachen geben (Buen Camino) und ich hoffe, dass die geteilten Ereignisse auch beim ein oder anderen ein Anstoß, für die ein oder andere emotionale Regung oder die Hinterfragung der eigenen Perspektive war 🤍.

Danke liebe Pilgerfamilie und Pilgerfreunde, ihr alle wart und seit etwas besonderes und ich werde euch nie vergessen. Ihr habt mich bei diesem Teil meiner Transformation begleitet und mich stets unterstützt, indem ihr mir neue Wege gezeigt habt. Ihr habt mir durch die vielen Gespräche neue Perspektiven aufgezeigt und klargemacht, was das Wesentliche im Leben ist. Danke, dass man sich auf jeden von euch verlassen konnte 🤍.

Ganz besonders möchte ich mich bei meiner geliebten Sany bedanken. Sie hat zu Hause die Stellung gehalten, sich um die Kinder gekümmert und zusammen mit Werner Wasserschäden bekämpft. Sany hat mich darin bestärkt, die Ferne zu suchen ohne zu wissen wie sehr sich mein Leben dreht – das verdient meinen größten Respekt. Danke dir liebe Sany – ich liebe dich und danke, dass es uns gibt 🤍.

Danke auch unserer lieben Noemi, die ihre Mama und Paul liebe- und verständnisvoll unterstützt hat, mir das wichtigste Untensil meiner Reise geschenkt hat (den weltbesten Ultraleichtrucksack). Du bist ein tolles, großes Mädchen – bleib immer so wie du bist 🤍.

Danke lieber Paul für die zahlreichen Küsse aufs Telefon und dafür, dass du so brav auf mich verzichten konntest. Du bist ein toller Sohnemann und wirst es immer sein 🤍.

Danke dir, liebe Gabriele fürs mitfiebern. Danke für deine Aufmunterungen, Gedichte und konstruktiven Anregungen zwischendurch – es hat mich Stolz gemacht, dass ich dich ein wenig inspirieren konnte 🤍.

Danke liebe Christel, dass du mich so nimmst, wie ich bin und als Mutter mit mir gefiebert hast. Danke auch für deine Zweifel und Sorgen zu Beginn meiner Reise, sie haben mich zusätzlich bestärkt 🤍.

Danke liebe Alsdorfer Familie, danke liebe Luna-Bluna und Lilly-Brilli für die tolle Abschiedsfeier und die Geschenke, sowie das ganz besondere Buch mit so schönen Wünschen und Inspirationen. Schön, dass ihr stolz auf mich seid – aber ich bin einfach nur gewandert – jeden Tag, 20 Kilometer. Ihr wart stets ein wichtiger Teil meines Weges und werdet es immer sein 🤍.

Liebe Karin und lieber Werner, danke euch für die Unterstützung bei der Beseitigung des Wasserschadens und dafür, dass ihr immer für uns da seid. Danke, für eure große Hilfe. Ja, lieber Werner, der Camino hätte dir gut gefallen – du kannst ihn immer noch gehen. Und dir liebe Karin, danke für deine sorgsam gewählten Zeilen in meinem Schatzbuch – sie haben mich tief berührt 🤍.

Ein dickes Dankeschön an meinen Orthopäden, der mir vor 10 Wochen sagte,ich könne den Weg nicht gehen. Als ich ihm erklärte, dass ich auf jeden Fall gehen werde, erwiderte er perplex „wenn überhaupt dann mit 20 Kilogramm wenniger auf den Rippen“. Er hat den Stein ins rollen gebracht meine Ernähung zu überdenken. Ich habe dadurch in 1,5 Monaten 7 Kilogramm verloren – vor dem „Camino Francés“ und das hat gereicht 🤍.

Danke liebes Physiotherapeutenteam der Praxis „proaktiver“ in Alsdorf. Das Team hat mich spontan 4 Wochen lang gedehnt , gezogen und gestreckt und mich damit nach 20 Jahren der Starre beweglich gemacht. Sie haben meine Hüfte großartig gerichtet und mich mit Tipps zur Dehnung versorgt. Ich habe es geschafft 🤍.

Danke liebe Heidi Tassin „als Dame aus dem Internet“ (und der Realität) für deine wertvollen Tipps rund um die Wasserblasen, Knochenhautentzündung, das Wandern, die Herbergen und den Camino allgemein – du hast mir meinen Weg wesentlich geebnet und mich mit deiner Weltsicht inspiriert. Insbesondere danke für dein „u.A..“, ich wollte die letzten Tage weiterwandern – hatte die gewohnte Aktivität als Pilger im Visir und du hast mir eine Abkürzung vorgeschlagen. Auf meine Frage wohin ich dort wohl wandern kann, antwortest du mit „u.A.“ – genau, ich könnte auch einfach ich selbst sein und mich finden … u.A. … das war die bessere Option! Kombiniert mit den anderen Erfahrungen aus der letzten Herberge war dies ein wesentlicher Schlüssel zu mir selbst 🤍.

Danke liebe Gudrun für das Fernreiki das du dem ungläubigen Thomas gespendet hast. Ob es funktioniert hat, das kann ich – natürlich – nicht zweifelsfrei sagen. Und danke für dein Lachen – ich habe es bis hier gespürt 🤍.

Danke lieber Marcel, dass du unsere Familie unterstützt hast und die Reisen wesentlich vereinfachen konntest. Danke für deine Hilfe bei mir zu Haus 🤍.

Danke lieber Stefan für die tolle, gemeinsame Trainingszeit und unsere Freundschaft. Und danke für die reflektierten Korrekturen der Perspektiven. Bald geht es wieder an den Blausteinsee und zum wandern 🤍!

Danke lieber Kubi, dass du wieder ein Teil meines Lebens bist und danke für unsere lebenslange Freundschaft 🤍.

Danke an alle, die mich in meiner Reise unterstützt haben. Einmalig und Einzigartig! Und denkt darüber nach, euch selbst diese Erfahrung zu schenken 🤍!

Danke „Camino Francés“ 🤍!

Buen Camino!

#Tag 44: Jakobsmuschel zum Finale

Heute heißt es Abschied nehmen. Vom Wanderleben, vom galizischen Essen, den tollen Erfahrungen mit anderen Pilgern und von meiner beeindruckenden Küste des Todes. Wir sehen uns wieder!

An einem exklusiven Sandstrand – dem „Praia Da Langosteira“ – findet man Jakobsmuscheln. Es ist der lang gezogene Sandstrand direkt vor Finisterra.

Das Meer sorgt mit jeder Flut für stetigen Nachschub und so finden sich zur Ebbe ausreichend Exemplare aller Couleur. Der gemeine Pilger braucht also nicht verstohlen durch die Nacht zu wandeln, denn das Meer hat für jeden ausreichend im Angebot.

Ich bin dem Wahrzeichen des Jakobsweges über 800 Kilometer gefolgt und muss sagen, dass es wirklich eine Besonderheit ist, die Jakobsmuschel an ihrem originären Lebensraum zu finden.

Die bis zu 15 cm großen Muscheln leben in Tiefen bis zu 200 Metern. In ihrer Jugend haften sie am Grund und als Erwachsene schwimmen sie schon mal durch die Meere – hallöchen und tschüss – und vergraben sich dann schnell im sandigem Untergrund. Ja, ihr habt richtig gelesen – mit Hilfe ihres stark ausgeprägten Schließmuskels können sie durch kräftiges Schließen und Öffnen ihrer Schalen mittels Rückstoßprinzip schwimmen. Nun, als Homosapien bin ich dann doch eher froh darüber, dass wir uns mit unseren Beinen fortbewegen dürfen.

Ich hatte gestern in in unserer Herberge von der Muscheloption erfahren und war versucht, direkt loszustürmen, um meine Kollektion zu starten. Aber gestern war mein Tag, meine Ankunft in mir selbst und so mussten die Muscheln auf mich warten.

Kollekte der Meere. Die Stadt im Hintergrund ist Finisterra, ganz links außen befindet sich der Leuchtturm.

Ich sammle also fleißig vor mich hin, wasche sie in meiner Herberge sandfrei und lasse die Hälfte der Selektion vom Strand vor Ort. Die Herberge wird sie gegen kleine Spenden an andere Pilger weitergeben. Ich selbst habe ausreichend im Gepäck und für jeden meiner Lieben zumindest ein Stück echter Natur für die Ewigkeit.

Um 15:00 Uhr ist es so weit, es geht mit dem Bus aus Finisterra los. Die Fahrt von drei Stunden für 7,05 Euro und rasanter Geschwindigkeit beginnt mit einem Ruuuuums. Die Busfahrerin kommt zeitig an und rammt beim parken die rückwärtige Straßenlaterne. Sie steigt aus, betrachtet ihr Fahrzeug und die boshafte Laterne verdutzt und steigt tiefenentspannt in den Bus. Egal – vamos – weiter gehts.

🤍

Und das soll es nun gewesen sein?

Jetzt – nach meiner Heimreise – startet der schwierige Teil meiner Reise, denn es gilt das kostbare Gut zu bewahren. Es zu schützen und auch meinem Herzen treu zu bleiben, der Welt etwas davon zurückzugeben, mögliche Niederschläge hinzunehmen – bis die Welt um mich herum zu meinem Herzen passt.

Ich hatte ausreichend Zeit mit mir, habe mein persönliches Ziel gefunden, meine Abenteuer erlebt und kann daher diesen „Camino Francés“ mit ruhigem Gewissen für dieses Mal abschließen. Die Pilger die ihn in der Vergangenheit öfter gegangen sind, sagten, dass er jedes Mal völlig unterschiedlich sei – die Menschen machen den Weg.

Davon abgesehen, ruft der „Camino Portugues“ mit seinen nur 250 Kilometern (14 Tage) zu einer kommenden Urlaubszeit. Die Portugiesen sind laut den Erfahrungsberichten von bekannten Pilgern noch gastfreundlicher und hilfsbereiter als die Spanier und der Weg soll ebenfalls wunderschön sein.

Entsprechend nähert sich vorerst auch das Ende dieser Geschichte. Für Morgen werde ich das wesentliche niederschreiben, z.B. was sich für mich geändert hat, was ich gelernt habe, was ich nächstes Mal anders machen würde und welches Gepäck wirklich von Nöten ist. Ihr dürft euch daher morgen auf einen Beitrag mit wertvollen Extrakten aus dem Camino Francés freuen.

Irgendwann in der Zukunft will ich niederschreiben, wie sich mein erster „Camino Francés“ im deutschen Alltag bewehrt. Ich denke, das wird ein spannendes Kapitel für sich.

Für heute fühlt es sich bereits anders an, zu weit weg und ich werde darum kämpfen noch lange von meinen Erfahrungen zu zehren und meinen inneren Frieden zu wahren.

Schön, dass ihr mich auf meiner Reise begleitet habt. Danke!

Nun freue ich mich jetzt und hier darauf, morgen Mittag meine Familie wiederzusehen und werde ganz besonders glücklich sein, wenn ich alle in meine Arme schließen kann. Buen Camino!

#Tag 43: Krokodilstränen

Als ich das Frühstück genieße schreibt mir Heidi (meine Hospitalera aus dem Internet), dass ich es geschafft habe. Das ich jetzt den Camino wirklich lebe. „Du siehst und fühlst jetzt!“ und ja, etwas ist seit gestern Abend anders – irgendwie fühlt es sich gut und richtig an. Aber was ist es? Sie meint ich hätte gestern „erstmals anders geschrieben, nach außen orientiert – ich schreibe nicht mehr für andere, sondern für mich“ und sie hatte Tränen in den Augen, als sie das erkannte. Ich bin – so schreibt sie – „von ihrem Camino-Sorgenkind zum Camino-Botschafter geworden“. Ok – gut!

Aber was ist es, wovon sie da schreibt? Im ersten Moment habe ich keine Ahnung, denke kurz darüber nach und flüchte vom Frühstücksraum in mein Zimmer. Denn mir steigen die lang ersehnten Tränen in die Augen und ihr wisst – als Mann weint man nicht. So hetze ich – völlig überflüssig und albern – zum Strand und muss dabei immer wieder weinen. Ich vergesse sogar meine letzten Pflaster zum Schutz der Blasenrelikte, lasse meinen Rucksack und meine Stöcke ruhen, kein Tracker und keine Navigationsapp ich laufe los um mich auf die Klippen zu setzen. Nur meine Thermoskanne mit leckerem Tee habe ich dabei – aufs wesentliche reduziert – lasse ich mich ins Leben treiben und ich bin grenzenlos glücklich.

Meine lang ersehnten Krokodilstränen sprudeln wie aus dem Nichts – sie sind einfach da, streichen sanft meine Wangen hinab. Wie oft saß ich an der Kathedrale in Santiago, habe mir das Glück erwünscht, die Tränen der Freude herbeigesehnt, die dort andere Pilger verspürten. Ich wollte sie hinauspressen wie ein Hase seine braunen, kleinen Knödel. Aber sie kamen nicht. Jetzt – jetzt sind sie einfach da!

Ich bin wirklich da – am Ziel meiner Reise, da hat sie Recht!

Ich denke nach, was genau passiert ist und was sich verändert hat. Ich bin ohne jegliche Erwartung am vorletzten Tag meiner Reise durch eine Verkettung glücklicher Umstände an meiner so sehr ersehnten Veränderung meiner Lebensphilosophie angekommen.

„Ich bin ok und du bist ok“ – wie oft habe ich diesen Satz gehört. Jetzt nach über 800 Kilometern, am Ende der Welt, am Strand des Todes habe ich ihn wirklich verinnerlicht.

Was wäre nur, wenn Heidi und die anderen Empfehlungen in meiner Facebookgruppe nicht den Bus nach „Cee“ vorgeschlagen hätten, wenn ich mit dem falschen Bus nach „Muxia“ gefahren wäre, wenn mir „Peter“ aus Dänemark seinen Lieblingsweg durch die Klippen des Todes verschwiegen hätte, wenn er nicht seinen Jakobsweg der Herberge „opfern“ würde um dort einfach glücklich zu sein und die von „Lane“ empfohlene Herberge nicht mein Ort zum verweilen gewesen wäre? Der erste Abend hat rückblickend meine Zukunft geprägt und mich zu meinem inneren Frieden geführt. Was wäre wenn Louis, eine der 25 anderen Herbergen gewählt und nicht zur rechten Zeit in den Klippen hätte sagen können, dass der Weg durch Klippen bald einfacher wird? Es ist im Grunde egal – aber dennoch bemerkenswert – wie zuverlässig die Zahnräder des Lebens in sich greifen, wenn man sie greifen lässt.

Es ist egal, denn es ist passiert und es ist ohne mein zutun geschehen. Warum? Weil ich es ohne Erwartung geschehen lies – mein Leben, der Camino oder die Erlebnisse, die Menschen darauf, sie alle haben mir gegeben, was ich mir so sehr gewünscht habe. Ich kann die größte Transformation erleben – die meiner selbst.

Ich ruhe in mir, habe meinen inneren Frieden gefunden. Muss nichts machen, was ich nicht will um bei anderen Gefallen zu finden. Ich muss keine Wanderziele auf vorgegebenen Wegen finden, keine Städte mehr als Ziel bewandern. Ich muss nichts beweisen, mein Bauch, mein Gefühl entscheidet im hier und jetzt und wählt das, was gut für mich ist.

Dies ist der lang ersehnte Moment in dem ich mich mit Hochachtung schätze, mich und meine Bedürfnisse grenzenlos respektiere – der Moment an dem ich ich ich selbst bin. Der Moment an dem mein Herz entscheidet und das Glück und den Sonnenschein wählt.

Gestern habe ich es zitiert, heute verstanden und sage selbst: das Ende des Camino ist nur ein neuer Tag!

Was habe ich anders gemacht? Ich habe nicht mehr gesucht. Ich erwarte nicht, ich lasse die Veränderung geschehen und vertraue darauf. Ist es das? Ich glaube schon!

Ich möchte leben, meinem Lebensweg vertrauen und ihn gewähren lassen. Ich möchte mich im Strom des Lebens treiben sehen. Voller Glück und es anderen Menschen ermöglichen, etwas davon zurückzugeben, sich selbst zu sein - grenzenlos. 

So sitze ich stundenlang auf dem Fels und denke nach. Es ist schwer zu verstehen und noch schwerer in Worte zu fassen. Nach ca. 3 Stunden habe ich genug sinniert und breche auf. Ich verlasse meinen ganz persönlichen Ort.

Als ich den Weg vom Strand zur Herberge zurückgehe ertönt aus dem Wald eine Motorsäge. Jemand fällt auf „meinem Berg“ ganz offensichtlich Bäume – am Ostersonntag – willkommen im Leben – willkommen in Spanien.

Und genau in dem Moment als ich auf dem Hügel ankomme, startet ein Osterfeuerwerk – um 12:34 Uhr Mittags – anders, aber wunderschön.

Der magische Moment, mein inneres Spektakel, mein kleines persönliches Wunder, mein inneres Feuerwerk. Mein Weg – mein bewegendster Moment!

Versteht ihr was passiert? Ich komme schon wieder zur richtigen Zeit, zum perfekten Ort um an der puren Lebensfreude teilzuhaben. Das ist ein Wunder! Das ist der Moment an dem meine Krokodilstränen ungebremst sprudeln – mein unvergessliches, inneres Feuerwerk – mein ganz persönliches, inneres Spektakel. So unfassbar! Danke Spanien, danke Camino, danke an alle, die mich begleiten – und vor allem: danke Michael!

Am Ende der Welt ist auch mein Kilometerstein am Ende und zeigt Kilometer 0,000

Ich genieße den Morgen, trinke in der Herberge Tee und starte gegen 14:00 Uhr zum Leuchtturm. Ich verlasse das Haus. Etwas fehlt, ich prüfe meine Taschen und habe keine Maske dabei. Daher geht es ab ins Zimmer, an den gewohnten Orten finde ich sie nicht und durchsuche meinen Rucksack.

Und – als hätte es mich gesucht, als hätte es diesen Tag gewählt – halte ich mein Schatzbuch mit den Glückwünschen meiner Familie in den Händen. Was für ein ehrwürdiger Tag die letzten vielen Seiten meiner Familie zu lesen. Ich nehme es mit, auf meine letzten Schritte meines unvergesslichen Jakobsweges und lese es am Leuchtturm zu Ende – am Ende der Welt.

Danke meine liebe Familie – ich liebe euch! Es ist wunderschön was ihr für mich geschrieben habt. Ihr habt mein Herz berührt und es ist schön, dass es uns gibt.

Gegen Nachmittag trete ich den Rückweg an und wähle den Wald. Das ist gut, zunächst entdecke ich einen Ort für Camper mit der sicherlich beeindruckendsten Aussicht dieser Welt.

Lieber Willi, dieser Wegpunkt ist für dich. Camping am Ende der Welt!

Im Wald finde ich – ohne zu suchen – jadegrüne Steine (vermutlich Malachit) die mich stets an meinen Weg erinnern sollen. Besser gesagt, sie finden mich. Ich entdecke die schöne Natur und eine ganz besondere Aussicht auf meinen – sagen wir mal „Schicksalsberg“.

Danke Welt für diesen Tag. Nach über 800 Kilometern, zahlreichen Blasen, Knochenhautentzündung und allerlei anderen, was man braucht um auf seinen Körper zu hören bin ich da! Mein Prozess der Transformation hat erfolgreich begonnen! Danke Camino! Buen Camino!

#Tag 42: Adrenalin

Heute geht über die Klippen an der „Costa de la muerte“ ein Abschnitt mit dem imposanten Namen „Küste des Todes“. Was will einem da schon wiederfahren? Am Ende der Welt auf der Küste des Todes.

Der Name kommt von den starken Unterströmungen die immer wieder zu Todesfällen führen. Wird man von der Küste des Todes abgetrieben, kommt gewiss der Tod. Es folgen lange Küstenabschnitte aus denen es in der Tat kein Entrinnen gibt – zu steil und eine wirklich tosende Brandung sind Garant für einen ungesunden Schleudergang.

Mein Tagesziel ist ein kleiner, verlassener Strand – der „Arnela Beach“ – mit einer kleinen Höhle.

Heute habe ich quasi Entjungferung – es ist das erste Mal seit 42 Tagen, dass ich ohne „schweres“ Gepäck unterwegs bin. Es fühlt sich seltsam an, man ist leicht, schnell und ungebremst – als hätte man Flügel. Damit ich meine Flüssigkeit für die Wanderung nicht auf Händen tragen muss, habe mir in der Herberge einen Sportbeutel geborgt. Darin kläppern Thermoskanne, Wasserflasche und eine Dose Monster lautstark vor sich hin.

Auf den ersten Felsen stellt sich ein mulmiges Gefühl ein, ich kann nicht einschätzen wie schwierig der Weg in der Todeszone ist. Ich weiß nur von unserem Dänen, dass er sehr herausfordernd sei und den Beinen alles abverlangt. Nun gut, Steigungen und Höhenmeter sind meine Wasserblasen zwischenzeitlich gewohnt.

Ich wähle stets den schönsten Weg, also möglichst weit außen an den Felswänden und werde mit atemberaubender Natur belohnt. Und so kommt es wie es kommen muss – wer schön sehen will, muss leiden.

Neben meinen Gebeinen geht es teilweise so steil hinunter, dass ich mich ausschließlich auf den Weg konzentrieren muss. Quasi mein erzwungener Tunnelblick, d.h. jeder Stockeinsatz, jeder Tritt wird akribisch vor der Umsetzung überprüft.

In der Mitte des ca 6 Kilometer langen Küstenabschnittes kommt meine Mutprobe. Es geht wirklich steil in die brausende Brandung hinab und man muss große Steine auf schmalen Pfaden überwinden. Ich nähere mich meinem Grenzbereich – dem Punkt, wo ich darüber nachdenke umzukehren, da die Hürden für mich immer unüberwindbar werden. Die Brandung selbst – tief und mächtig – unterstreicht die Dramatik passend.

Was ist die Alternative? Die ganzen Felsen wieder hinaufklettern und den ganzen langen Abschnitt auf anderer Höhe erneut bewältigen? Keine gute Option und so setze ich mich auf meinen Hosenboden und klettere auf allen Vieren die restlichen Felsen hinab.

Der fliegende Mexikaner – welch beeindruckende Pose.

Die Flucht nach vorne war die richtige Entscheidung, denn nur ein paar Felsvorsprünge weiter treffe ich auf Louis – er ist auf dem Rückweg – und berichtet, dass es in Kürze einfacher wird. Das sind gute Aussichten!

Louis ein ehemaliger Anwalt aus Mexiko City. Er wird den Camino noch einen weiteren Monat leben und entscheidet jeden Tag neu. Er geniest die Zeit mit sich selbst – ein ganz besonders wundervoller Mensch. Danke Louis für deine entspannte und liebenswerte Art.

Der Weg ist auf bemerkenswerte Weise ermüdend und nach vier Stunden und unzähligen Abbiegungen durch „oh – eine Blume“, „oh – weitere Felsen“ oder „oh – ein Abhang“ ist der Strand in Sicht.

Wunderschön und (fast) Menschenleer. Es geht ein letztes mal sehr steil über Felsen hinunter – oder alternativ durch dorniges Gebüsch. Ich wähle das Gebüsch und mache erst mal eine lange Pause.

Ich bin wahrlich stolz auf mich, da ich auch die „Klippen des Todes“ überstanden habe. Und nein, so schlimm waren sie nicht – für mich jedoch sehr wohl. Und so trete ich mit Stolz geschwellter Brust den langweiligen Heimweg an und trinke währenddessen den Rest meiner Wasserflaschen.

Auf dem Heimweg bin ich wirklich ermüdet. Mag nicht mehr gehen und beschließe noch einen Tag in der Herberge zu bleiben. Ich will morgen nur noch zum Leuchtturm gehen – ein kleiner Spaziergang zum Abschied. Es war schön und ist nun genug. Mein Körper ruft nach Wanderpause.

Am Abend sind wir ein neuer, bunt zusammengewürfelter Haufen und zumindest ein Teil der Gruppe eilt nach dem verspäteten Abendessen zum Sonnenuntergang. Die Männer eilen zur Sonne, während die vermeintlich romatischeren Damen in der Herberge verbleiben.

Es ist erstaunlich wie gut mir diese sehr einfache, günstige aber unbeschreiblich leckere vegane Küche schmeckt. Heute gibt es Reis mit Pilzen in einer Cremesauce. Danach Bratkartoffel mit Paprika aus dem Ofen mit Olivenöl und frischen Gewürzen. Eigentlich nur belanglose Beilagen, aber so unbeschreiblich intensiv, anders schmeckend und so lecker, dass es keinem Fleisch bedarf.

Interessant ist, dass es heute Abend keine intensiven Geschichten gibt – keine neuen Perspektiven. Es ist der gleiche Ort, die gleiche Herberge, der gleiche Weg, aber heute sind mehr Induviduen da, die nach einer Osterparty suchen und den Camino auf andere Art verstanden haben. Alles ist gut und ich gehe als einer der Ersten, zufrieden und vom Tag erfüllt ins Bett.

Heute – so scheint es, als würde sich der Camino auf allen Ebenen verabschieden. Ich kann loslassen, ich habe ihn wirklich gelebt – Buen Camino!

In der Nähe schießen sie Böller in die Nacht – Kanonenschläge – deren Druck spürbar ist. Die Piraten kommen zurück – zur Küste des Todes. Gute Nacht Welt!

#Tag 41: Mutation zur dritten Art

Meine Zeit fürs Wandern (3 Tage) ist zu knapp und der Weg (5-7 Tage) zu lang. Entsprechend habe ich zwei Handlungsmöglichkeiten: in der Stadt faulenzen oder den Weg verkürzen – künstlich versteht sich. Das neue Ziel ist Finisterra und ob es von dort weiter nach Muxia geht, lasse ich offen.

Ich mutiere folglich im Nebel des Morgengrauens zum Zombie-Pilger, laufe zum Busbahnhof, fahre mit dem Bus und fokussiere mich die kommenden Tage auf die schönsten Reiseziele.

Zeitig am Morgen wird der Rucksack gepackt und die Schuhe geschnürt – das fühlt sich unbeschreiblich gut an. Das Wandern hat mich zurück! Und pünktlich um 9:15 Uhr geht es dann – um 9:30 Uhr – mit dem Bus los.

Zuvor saß ich in zwei verschiedenen Bussen und habe glücklicher Weise nochmal mit Unterstützung meines Bustickets nachgefragt. Dort steht „Cee“ und dann folgt die überraschte Antwort des Busfahrers „No, no“ – also ab, in den nächsten Bus.

Normaler Weise sind die Busse überfüllt, erzählt man mir – aber es ist Ostern – und die anderen Zombiepilger verweilen in Santiago und das ist gut so. Ich überspringe mit einer Fahrt von 2,5 Stunden für 7,00 Euro ganze 3,5 Wandertage.

An einer Haltestelle steigt der Busfahrer aus und geht in eine Bar – der Motor läuft – dort trinkt er gemütlich einen Kaffee – der Motor läuft – und kommt wieder zurück und dann geht es weiter – der Motor läuft. Es ist eben alles entspannt hier in Spanien.

Nach der Busfahrt suche ich den „Camiño a Fisterra“ und wandere dort die knapp 15 Kilometer nach „Finisterra“. Dort will ich den Leuchtturm mit seinem Wanderschuh aus Stein besuchen. Er ist Symbol dafür, dass die Pilger früher ihre Wanderstiefel an dieser Stelle verbrannt haben, hatte mir Jessica erzählt. Und am späten Abend will ich beobachten wie die Sonne im Meer versinkt. Ich freue mich so sehr auf dieses „Ende der Welt“.

Ich ärgere mich ein wenig über den Pausentag Santiago, da ich im Rückblick die Zeit auch gerne auf den Beinen verbracht hätte – verrückt.

Und da kommt ein junger Bursche daher, er ist den gleichen Camino gegangen und das sieht man – etwas ungepflegt, gebräunt, meist humpelnd und mit viel Gepäck. Irgendwelche Gegenstände hängen belanglos am Rucksack herab – das Äußere ist mit den Kilometern gleichgültig geworden. Die Pelegrinos (Kurzstreckenplger), sind im Gegenzug gekämmt, gebürstet und gestriegelt. Nicht selten dampfen ihre Haare vom Lockenstab und so laufen sie dahin als würden sie mal eben in die Küche gehen. Sie setzen noch auf äußere Werte.

Ich schweife ab, … also der junge Franzose … er ist den ganzen Weg von „Seant Jean Pied de Port“ bis nach „Finisterra“ gelaufen. Er meint, er wäre völlig ausgelaugt, hat die Strecke seit Santiago nicht mehr genossen, weil sein Körper nach Rast ächzt. Er wäre wohl lieber mit dem Bus gefahren sagt er. Danke für meine Absolution denke ich und freue mich über frisch geruhte Füße.

Der Camino geht zunächst am Hafen von Cee entlang, dann auf einen Hügel in die Natur. Wundervolle Aussicht, die Feigenbäume sind bereits grün und die Zikaden zirpen von den Pinien. Eine völlig andere Welt.

An einer Bucht ist eine von außen unscheinbare Bar und ich will Frühstücken. Ich bestelle einen Salatteller und bekomme diesen ohne Brot gereicht, dazu einen leckeren Kaffee. Der Salat schmeckt fast so gut wie zu Hause, ich genieße ihn und ich habe noch Hunger. Also bestelle ich einen weiteren Salat – mit Brot. Der kellnernde Inhaber versteht mich nicht und Google-Translate fällt mangels fehlendem Internet aus. Wir verständigen uns mit den Händen und sind uns einig. Dachte ich!

Wenig später kommt der Salat, dazu das gewünschte Brot. Zusätzlich gibt es frisch gegrillte Rippchen – auch gut. Also beginne ich zu speisen und nach einer Weile bringt er eine Kräutersauce dazu. So mampfe ich vor mich hin und er kommt wieder und bringt Pommes daher. So langsam mache ich mir sorgen, dass ich die ganze Speisekarte bestellt habe, aber es geht nochmal gut. Weiteren Lieferungen bleiben aus!

Als ich bezahlen will, kommt der Kellner mit einem ganzen Arm voller Speisen auf mich zu. Mein Mund bleibt offen stehen und er biegt ab. Ein Glück! Als er abräumt frage ich ihn, ob ich mit Karte zahlen kann und er antwortet mit „si“. Dann denke ich nach und hoffe, dass ich nichts weiter bestellt habe.

Nein, ich zahle und laufe am Strand entlang.

Der Camino und die Menschen drum herum (danke Heidi) hat mich seit heute wieder und ich habe mir etwas in Erinnerung gerufen. Es geht nicht ums wandern, um ein physisches Ziel zu erreichen, sondern ausschließlich darum, das Leben zu genießen. Es ist völlig legitim mit dem Bus die Berge zu überspringen, um dann die letzten Tage am Meer zu verbringen.

Auf dem Weg treffe ich einen alt bekannten, hochgewachsenen Holländer, er ist im Stress da heute sein letzter Tag ist. Wir sprechen kurz und dann braust er weiter. Alles klar denke ich – ich habe alles richtig gemacht.

In „Finesterra“ wähle ich eine Herberge, die mir Lane (die zwei Deutschen am ersten Abend in SJPDP) empfohlen hatte. Ich hatte sie vorgestern angeschrieben, da ich sie seit „Tag 0“ und „Vancesvalles“ nur noch einmal wieder getroffen habe. Dann habe ich sie immer wieder mal auf Fotos oder Videos von Herbergsvätern gesehen und wusste daher, dass sie meiner Zeit weit voraus war. Sie ist bereits bis Muxia durchgelaufen und gibt mir tolle Tipps. Danke Lane!

Ich trete in die Herberge „Albergue La Espiral“ ein und treffe grenzenlos glückliche Menschen, zwei Männer aus Italien die hier im Sommer leben und eine Frau (die Inhaberin). Einer von ihnen führt mich ins Herbergszimmer und ich traue meinen Augen nicht, ich sehe die sehr interessante Persönlichkeit, den introvertierten Mexikaner „Louis“ aus dem Gebirgsjäger-Team vor einigen Wochen. Er ist den Weg über „Muxia“ nach „Finesterra“ entgegengesetzt gelaufen und hat am Nachmittag die selbe Herberge gewählt – aus 25 möglichen Alternativen – das ist der Camino.

Wir freuen uns wie kleine Kinder und wollen am Abend den Sonnenuntergang gemeinsam erleben. Vorab gibt es selbstgemachte, italienische Pasta, mit viel Knoblauch, Olivenöl und danach Zucchini mit Zwiebel und Brot und anschließend selbstgebackenen Kuchen. Das Essen wird durch Spenden finanziert und schmeckt unglaublich lecker.

In meiner Herberge wimmelt es von Menschen mit interessanten Lebensgeschichten das ist so spannend und inspirierend. Wahnsinn!

Einem 45 Jahre alten Mann hatte man vor 4 Jahren im Krankenhaus aufgrund einer schweren Krankheit nur noch wenige Monate prognostiziert. Da er nichts zu verlieren hatte, ist er den Camino gelaufen. Anfangs mit 2,5 Kg an Medikamenten die er nach wenigen Wochen eigenständig absetzte. Jetzt ist er kerngesunder Physiotherapeut und wird in drei Wochen mit seiner Familie nach Vietnam ziehen.

Er hat einen Berliner Arzt getroffen – erzählt er – der ohne Geld in Berlin gestartet ist und von abgelaufenen Lebensmittelspenden lebt. Er übernachtet im Zelt und seine unbeschreiblich zufriedene Ausstrahlung fasziniert ihn noch heute.

Er frägt mich, was ich morgen machen werde und ich antworte – „ich weiß es nicht“. Er lacht und meint „du hast den Camino wirklich durchlebt und verinnerlicht“. Nun, da ist glaube ich noch viel Luft nach oben. Aber auch ja, ich lerne – täglich neu – auf meinen Körper zu achten und das zu tun was mir Freude bereitet.

Er selbst ist seit Anfang des Monats in der Herberge, wollte eigentlich einen Camino gehen, und wandert täglich viele Kilometer in alle Hinmelsrichtungen. Die Klippen haben es ihm angetan und er erzählt davon. Schmale Pfade mit sehr steilen Anstiegen und atemberaubenden Aussichten – fern ab vom Massentourismus. Und am Ende kommt eine kleine abgelegene, idyllische Bucht. Ach ja, ich weiß es doch – sagt meine Stimme zum Hositalero – und verlängert das Herbergszimmer um eine Nacht.

Neben mir sitzen zwei deutsche Mädchen. Eine davon ist Deutschlehrerin – wie meine liebe Schwester – und wird ihr Leben in Deutschland aufgeben. Sie will in Thailand die Deutsche Sprache lehren und ist aufgeregt und freut sich zugleich auf diese neue Erfahrung. Sie erzählt von vielen Reisen, von vielen Erlebnissen – mit so jungen Jahren! Sie lebt wirklich ihr Leben!

Buen Camino!

Tag 40: Paukenschlag vor Mitternacht

Eigentlich will ich ausschlafen, aber daraus wird nichts. Die umliegenden Gäste sind zu sehr damit beschäftigt ihre Zimmer zu kramen und irgendwo auf dem Flur haben sie bis nachts um 1:00 Uhr staubgesaugt und pünktlich um 7:30 Uhr fortgeführt – da hatte wohl jemand Sehnsucht nach dem wochenlangen Entzug (?).

Das macht aber alles nichts – den ich bin hier und habe es geschafft.

Nach dem Duschen wird Wäsche gewaschen, damit diese bis morgen trocknen kann. Dann geht es in die Altstadt Richtung Kathedrale. Ich möchte nochmal die Atmosphäre geniesen und vor allem Maria bei ihrem Einzug begrüßen. Nach meiner Einschätzung müsste sie gegen 12:00 Uhr ankommen.

Auf dem Weg entdecke ich, dass die Markthallen geöffnet sind, treten ein und sauge den kulturellen Unterschied, den Hauch spanische Atmosphäre gepaart mit einer Artenvielfalt der Frische in mich ein.

Als ich auf Maria in der Sonne warte kommt ein bekannter Pilger aus Norddeutschland des Weges. Ich rufe ihm zu, klatsche laut und gratulierte ihm ganz herzlich. Er hat die letzten 200 Kilometer Verstärkung von seiner Ehefrau bekommen – beide haben ihr Ziel glücklich erreicht.

Ich erinnere mich noch genau an unser fünfminütiges Gespräch vor einigen Wochen, ich saß während einer anstrengenden Matschstrecke auf einem Stein, hatte die Schuhe aus und habe ihm ein Stück von meinem Schokoladenkeks abgegeben. Er erzählte mir von seinen Blasenpflaster aus dem Edeka – er schwört auf sie und auf seine HAIX-Wanderstiefel.

Sie berichten mir davon, dass sie kurz zuvor die Begegnung mit der dritten Art hatten. Ein Taxi ist ihnen vor die Füße gefahren und eine Horde von Scheinpilgern ist ausgestiegen. Sie haben sich dann vom Taxifahrer die Prozedur zur Compostela erklären lassen.

Was für Geschichten die Taxi-Pilger wohl den Rest ihres Lebens erfinden werden, damit ihr Selbstbetrug unentdeckt bleibt? Etwa so vielleicht: „Oh, du bist den Jakobsweg gegangen, das ist ja Wundervoll. Und was hast du erlebt?“ darauf antwortet der Pseudopilgrim „Nichts, aber es war bestimmt anstrengend – hupps“.

Wie auch immer ist Maria in diesen Minuten unbemerkt vorbeigehuscht, denn ich treffe sie später auf dem Platz vor der Kathedrale. Wir fallen uns in die Arme und beglückwünschen uns gegenseitig. Damit haben alle aus der Pilgerfamilie ihr angestrebtes Ziel erreicht.

Maria ist überglücklich und legt sich auf den Boden und ich mich ebenfalls. Allerdings ein paar Meter entfernt, denn sie ist den Weg zu Ehren ihres verstorbenen Mannes gelaufen und soll ihre Ankunft in Ruhe erleben. Es ist ihr Weg.

Als ich da so liege, schlafe ich ein und als ich aufwache, hat Maria Gesellschaft. Es dauert nicht lange, bis ich Jessica – ihre Tochter – erkenne. Wie wunderbar – nun sind noch mehr unserer „Pilgrimfamila“ vereint.

Jessica ist am Morgen mit dem Flugzeug angereist und hat sich über meinen spontanen Pausentag gefreut. Wir können uns noch einmal Wiedersehen. Wir begießen unser gemeinsames Ende des offiziellen Jakobsweges mit einem Bier.

Wobei – es ist nicht das Ende!

Man sagt „die Ankunft in Santiago ist nicht das Ende des Weges, es ist nur der Anfang eines neuen Tages!“ der Weg ist nie zu Ende. Und das ist gut so!

Wie es morgen weitergeht bleibt spannend. Denn der Weg ist länger als gedacht und die Zeit zu knapp. Aber zu Zeiten des Internets tauscht man sich aus und so dürft ihr unerwartete Wendungen erwarten. Soviel vorab – ich werde neue Wege gehen.

Nach meinem Abendessen mache ich mich auf den Heimweg als mir Jessica schreibt, dass sie sich gerade aufmachen, um etwas essen zu gehen. Ich schreibe ihnen, dass ich schon auf dem Weg zur Herberge bin und sie sind enttäuscht, da sie mir noch ein Abschiedsgeschenk geben wollten. Also treffen wir uns noch spontan auf ein letztes Bier.

Auf dem Heimweg passiert es dann. Ich bleibe an einer Menschenmenge neben der Kneipe von eben stehen und erfahre, dass die Osterprozession mit den Sündern um 23:30 Uhr startet.

Ich wollte dieses Ereignis unbedingt sehen und jetzt haben sich die Zufälle so verkettet, dass ich genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort bin. Wahnsinn! Ich denke an Heidi, mit ihrer Bestellung ans Universum: „aufgeben und dann flott vergessen“.

Aber ich muss abwägen zwischen: sicher in die Herberge kommen oder das Risiko wählen, dass die Pforten alsbald für die Nacht verschlossen sind. Ich wollte diese Prozession unbedingt sehen, wähle das Risiko und schaffe es mit dem letzten Paukenschlag in die Herberge.

Osterprozession in Santiago de Compostela 2022

Auf dem Heimweg überlege ich – wie es mir geht?

Das Ende des wunderschönen langen Weges kam viel zu schnell, viel zu abrupt. Es fühlt sich auf der einen Seite ein wenig so an, als hätte man mir den Boden unter den Füßen entzogen. Ich habe meine neuen Freunde und Weggefährten verloren und auch das große, unnahbare Ziel bewältigt. Jetzt gilt es neue Ufer zu finden, in die Realität zurückzukehren, das gelernte zu bewahren und das verursacht ein wahres Wechselbad der Gefühle. Wie wird es da erst dem Mann aus der Ukraine ergehen, der nach der Compostela ins „Nichts“ zurückkehren wird?

Auf der anderen Seite freue ich mich riesig darauf, meine Familie und Freunde zu Hause wieder zu sehen. Das soll aber noch 5 Tage dauern und bis zur neuen Aufgabe morgen bleibt eben diese eine Kluft, die es zu erforschen gilt.

Ich denke es ist der Wechsel von der neuen „Komfortzone“, die des täglich gleichen Ablaufs beim Wandern, hin zu einem neuen noch undefinierten Standard. Wenn dies stimmt, dann ist es wahrlich erstaunlich, wie Groß das Streben nach Gewöhnung ist und bei diesem Gedanken beginnt es in mir zu kribbeln, der Ruf nach neuen Abenteuern. Das fühlt sich gut an!

Buen Comino!

#Tag 39: da!

Um 6:30 Uhr klingeln die ersten Wecker und die Koreanerinnen und ein paar weitere Kollegen in meinem Herbergszimmer beginnen zu kramen. Sie haben die ganze Nacht in ihrer vollständigen Wandermontur verbracht – inklusive Jacke – packen hektisch zusammen und unterhalten die sechs weiteren „Pereginos“ (Kurzstreckenpilger) und mich „Pilgrim“ (Langstreckenpilger).

Der Schelm in mir überlegt bei all den Mythen, Geschichten und Unwahrheiten des Weges, ob ich auch mal Quell einer Beschleunigung sein soll.

Wie wäre es wohl, wenn ich erzählen würde, dass die Pilgermassen vor Ostern das Papier der Kathedrale für die Urkunden nahezu aufgebraucht hätten? Es seien nur noch 456 Blatt übrig und auch die Tinte ginge zu neige. Die Strecke würde zur Formel-1 Rennbahn und die Pilger würden kreischend übereinander herfallen, sich zwischen den Eukalyptusbäumen lynchen und fluchend über einander hinweg klettern – was ein Anblick. Im Ziel angekommen ständen sie dann als hoch emotionale Traube vor den Toren der Grabstätte des Apostel Jakubus – die es nun zu stürmen gilt – um irgendwo im inneren der 23.000 Quadratmeter Fläche zumindest noch ein letztes leeres Blatt Papier zu ergattern. Sie wären dann die wahr gewordene Zombieakapolypse in Santiago.

Nun, es gibt gerade kein Popcorn und keine Chips und ich will sie mit ihrer eigenen Motivation belassen. Denn das sollte genügend Beschleunigung bringen, damit ich halbwegs entspannt durchpilgern kann – und ich sollte Recht behalten. Also drehe ich mich um, will noch etwas schlafen und genieße sogleich den nächsten Wecker.

Kurz vor dem Einschlafen denke ich an den armen, verstreuten Apostel Jakubus. Durch die bischöfliche und päpstliche Anerkennung der dort gefundenen Gebeine als Reliquien des Jakobus, gilt die Kathedrale von Santiago als dessen offizielle Grabeskirche. Die armenische Jakobskathedrale in Jerusalem gibt an, im Besitz des Schädels des Apostels zu sein – schließlich wurde er dort enthauptet.

Und wo ist der ganze Rest? Muss ich nun bis nach Jerusalem weiter pilgern und währenddessen eine archäologische Grundausbildung über die VHS absolvieren?

Der Weg führt unverändert durch schöne Wälder in denen es die letzten zwei kleinen Anhöhen mit 330 Höhenmetern zu meistern gilt. Mitten im Wald verkauft ein Mann Wachsstempel für den Pilgerpass an die kleine Ansammung vor seinem Stand. Etwas später hört man die Flugzeuge, zack – das war ne Rayanair – und passiert schon bald den Flughafen von Santiago.

12 Kilometer entfernt von der Kathedrale mache ich gegen 11:00 Uhr Rast und setze mich an die Straße um den Pilgerschaulauf zu genießen. Passend zum Massentourismus tauglichem Schinkenbaguette (sie werden kleiner, ohne Olivenöl, …) gibt es Fäkalienduft aus dem Gulli. Und da kommt er des Weges – James – und zur Feier des Tages trinken wir erst mal einen Kaffee, unterhalten uns übers Abendessen (ich will Pizza) und ziehen dann gemeinsam weiter.

Ich erzähle ihm von den Gebeinen und dem Kopf aus Jerusalem. Er weiß bescheid! Offen bleibt die Frage, wie man damals einen kopflosen Körper von Jerusalem nach Santiago brachte und wozu? Wir kämpfen auf nur 800 Kilometern mit 11 Kilogramm Gepäck im Rucksack – aber ein ganzer Körper am Rücken? Noch spannender ist die Frage, wie man damals nach ganzen 600 Jahren die Gebeine (was dann davon noch übrig ist) dem Kopf in Jerusalem zuordnen konnte. Etwa so? „Oh – da hab ich glatt Beinknochen gefunden“ – aus dem off – „Klar, die sind eindeutig vom Apostel Jakubus“? Vermutlich waren es Geistliche von Akte-X oder die Autoren von „Forensische Beweise“?! Die wissen sicherlich auch bescheid.

Der erste Pilger in der Nähe der Kathedrale spricht mich fragend an: „Aachen?“ ich bin verdutzt und überlege wo ich meine Herkunft niedergeschrieben habe oder woran es erkenntlich ist. Er zeigt mir seinen kleinen Finger – den Klenkes. Ok – alles klar – ich verstehe, es ist der Pilger aus Aachen dessen Behaarung zu wunden Stellen zwischen den Beinen geführt hatte – hatte er mir einst erzählt. Ich habe ihn vor Wochen watscheln sehen, als ich selbst mit meinen Wasserblasen auf dem Weg zum „Centro de Salud“ war. Verrückt, man tauscht sich aus – man kennt sich eben.

Die Kathedrale von Santiago de Compostela – wir erreichen sie um 16:16 Uhr – sowie die umliegende Altstadt ist UNESCO Weltkulturerbe. Der Kathedralbau begann 1075 unter der Herrschaft von Alfons VI über den Resten einer wesentlich älteren Kirche aus dem 8. Jahrhundert.

James erzählte mir von einem Hintereingang der Kathedrale für Pilger – der wohl „extra für den Andrang vor Ostern freigelegt“ wurde – wo man via App mittels QR-Code seine Compostela digital vorbereiten kann. Diese Halbwahrheit hat er von seinem Herbergsvater.

In der Realität ist es ein Gebäude ca. 500 Meter entfernt wo man mittels QR-Code und fehlender Browseroptimierung mit der Eingabe der Daten kämpft. Aber irgendwann hat man gelernt, wie man die Fehler der Seite umgehen kann, wird eingelassen und bekommt die offizielle Compostela handschriftlich ausgestellt. Dazu gibt es für drei Euro eine weitere Urkunde mit Startdatum, -ort, einer (natürlich) falschen Kilometerangabe und weiteren Informationen.

Bekommt das jeder? Nein, tatsächlich wird Personalausweis sowie der Startstempel in „Sean Jean Pied de Port“ vom 06.03.2022 und Endstempel in „Santiago de Compostela“ (13.04.2022) geprüft. Da ich zwei Stempelbücher habe, brauchte ich mehrere Anläufe, bis die Dame den Zusammenhang versteht – scheint also unüblich zu sein.

Die offizielle Compostela!
Offiziell 779 Kilometer gewandert. Laut meiner Kalkulation sind es knapp 800 Kilometer, aber am Ende ist es unwesentlich. Geschafft ist geschafft!

Nach der Urkunde geht es zurück zur Kirche. Dort wird der Rucksack abgezogen und dann legt man sich zu den anderen Pilgern auf den Steinboden und geniest die Kathedrale. Stundenlang. Wunderschön – ich bin „da!“.

Eine „Peregino“-Dame auf dem Platz fragt mich, wie lange ich gelaufen sei und ich antworte mit „39 Tage“. Sie sieht mich an und bricht in schallendes Gelächter aus. Sie lacht mich aus und ich überlege weshalb es so lustig ist und ergänze „800 Kilometer“. Ihr Lachen friert umgehend ein, sie wird toternst und dreht sich beschämt weg. Ich bin wieder erstaunt – vermutlich dachte sie ich sei die 117 Kilometer von „Sarria“ für die Compostela in 39 Tagen gelaufen. Es ist eben immer eine Frage der Perspektive.

Da die Emotionalität bei Nacht sicherlich noch umwerfender ist, will ich später nochmal her. Wir gehen flott in die Kathedrale und danach essen wir handbereitete extrem leckere Pizza auf dem Sockel eines Brunnens. Dann geht es gemütlich weiter, den letzten gemeinsamen Kilometer mit James bis zur Herberge – Seminario Menor – dort trennen sich unsere Wege – für immer – denn er trifft seine Freundin und wird jetzt die verbleibende Zeit mit ihr verbringen. Für mich selbst geht es ungläubig auf das Bett – ich habe es geschafft!

Hier trennen sich die Wege mit James – in unserer Herberge „Seminario Menor“

Am Abend geht es für mich alleine in Plastikschluppen los und siehe da, wer ist auch da auf dem Platz – der Mann mit den Wunden stellen zwischen den Beinen.

Die Kathedrale ist beleuchtet, wunderschön. Hier und da fehlen vereinzelt Lampen, wen interessiert das schon. Eine spanische Musikgruppe spielt vor sich hin und die Leute tanzen. Ich genieße es!

Bevor es ins Bett geht, verlängere ich das Einzelzimmer um eine weitere Nacht. Ich will den Tag in „Santiago de Compostela“ geniesen, vor der Kirche liegen, Maria bei ihrer Ankunft im Ziel begrüßen und am Abend vielleicht in die Pilgermesse gehen. Vor allem aber will ich jetzt keine Kleidung waschen – denn morgen breche ich das letzte saubere Set an. Ich will ausschlafen und einen Tag ruhen.

Mit dieser Entscheidung habe ich meine Zukunft verändert. Ich wandere nicht nach Muxia und dann nach Finesterra sondern nur noch bis nach Finisterra – „dem Ende der Welt“.

Der Blog meiner Reise wird also weitergehen – mindestens bis zum 20.04. Buen Camino!

#Tag 38: das Ende ist ein Neuanfang

Heute ging es 15 kleine Kilometer weiter – von „As Quintas (Burres)“ nach „O Pedrouzo“.

Auch wenn ich noch gerne bei Heidi und Rolf geblieben wäre, um die interessanten und klärendenden Gespräche fortzuführen. Aber der Zeitplan lässt es nicht zu, denn gestern hat sich ggf. ein weiteres nachgelagertes oder alternatives Wanderziel in die Reihe eingeschlichen.

Heidi, Rolf und ich verabschieden uns und sagen auf „Wiedersehen“, denn wir werden uns ganz sicher wieder treffen. Zum Abschied stellt sie mir noch eine sehr positive und spannende Frage über meine Persönlichkeit – Bummmmmmm! Die sitzt, und soll meine Aufgabe für die nächsten Tage sein.

Ich handhabe es mit dem Camino wie mit einer Weißwurst – „nach Zwölf ist vor Zwölf.“ Ich werde dazu jeden Meter morgen und vor allem bei meinen 4 Tagen ans Meer und nach dem Camino auskosten.

Ihr werdet euch wundern, denn ich habe auf dem ganzen Weg heute nur ein Foto gemacht – und das ist hässlich. Es hat geregnet und es war einfach unspektakulär und so hat mich heute nichts bewegt, das ist auch in Ordnung.

Ich bin sehr gespannt wie es morgen wird. Denn Morgen komme ich nach 19 Kilometern zum physischen Ziel meiner Reise – der Kathedrale in „Santiago de Compostela“. Ausnahmsweise habe ich wegen der Osterprozession vorab gebucht – das habe ich schon lange nicht mehr – und mir für 22 Euro ein Einzelzimmer in einer Herberge gegönnt.

Die Geschichten, dass alle Herbergen wegen Ostern ausgebucht seien und dass die Zimmer bis zu 250 Euro die Nacht kosten, haben sich nicht bestätigt. Gut, dass ich ruhig geblieben bin und meinen Weg nur am Anfang und ganz am Schluss einen Tag vorausgeplant habe. Viele andere Pilger haben seit langem die letzten fünf Tage gebucht und sich in ein unflexibles, zeitliches Gerüst gezwängt. In diesem Fall habe ich meinem Glück vertraut und behalte Recht.

Nach meiner Ankunft in „Santiago de Compostela“ möchte ich ein Resümee ziehen, wenn ihr Fragen über meinen Weg habt, dann könnt ihr sie mir gerne über WhatsApp mitteilen. Ich freue mich darauf!

Nun eine Portion Statistik-Resumé zu meinem Camino Francés

So schnell geht es vorüber und es fühlt sich nicht so an. Ich werde morgen Abend über 800 Kilometer zurückgelegt haben. Das entspricht in etwa der Strecke von Alsdorf nach Usedom.

Dabei habe ich mich ca. 13.822 Höhenmeter nach oben geschwitzt und mir mit 13.745 Höhenmeter beim Abstieg Blasen gelaufen – kein Wunder. Ich bin die letzten 5,5 Wochen im Schnitt täglich 20 Kilometer gelaufen und habe mir insgesamt 4 Tage Rast gegönnt – zwei davon habe ich zur Schonung meiner Füße im Bett verbracht.

Auf meinem „Camino Francés“ gab es drei herausfordernde Bergstiege und ich hatte eine Grenzerfahrung – am ersten Tag – als mein Körper den Energieverbrauch fokussierte und meine Augen nur noch das Wesentliche im Zentrum des Sehfeldes fixieren konnten und ich die letzten Kilometer mit einem Tunnelblick gelaufen bin. Das werde ich wohl niemals vergessen.

Dreimal dachte ich, ich müsse wegen gesundheitlicher Probleme aufgeben. Aber es ging immer weiter – Schritt für Schritt – und natürlich auch dank der Medikamente.

An den 38 Tagen war ich sieben mal in der Apotheke, habe mindestens 140 Pflaster mit ca. 15 Meter Omnifix Klebeband fixiert, war 4x in der Ambulanz und habe 1,5 Packungen Ibuprofen 400 verbraucht. Mein Magen wird froh sein – wenn es wieder nach Hause geht.

Ich habe aufgrund fehlender/defekter Internetzugänge in den Herbergen fast 16 Gigabyte an Datenvolumen verbraucht und hatte auf dem ganzen Weg nur für eine einzige Stunde kein Netz. Der Standard ist hier 5G oder 4G und das überall, an einem einzigen Ort – gestern bei Heidi – hatte ich 3G. Und da darf nicht unerwähnt bleiben, was für ein Entwicklungsland unser Deutschland ist – die Netwerkqualität ist mitten in tiefsten, spanischen Wäldern um ein vielfaches besser als in den meisten Städten in Deutschland – traurig.

Wie geht es weiter?

Aber ihr kennt es: das Ende ist stets ein Neuanfang.

Und dazu geht es übermorgen weiter nach „Muxia“ mit 82 weiteren Kilometern (4 Tage) und/oder von dort zu „Finisterra“ (114 Kilometer gesamt).

Dann einen Rückreisetag mit dem Bus und am nächsten Tag geht es ab ins Flugzeug – zurück zu meiner besten Familie der Welt. Ich freue mich drauf ♥️.

#Tag 37: Kilometerstein 33,664

Heute Morgen schüttet es aus Gießkannen und ich habe mich für 9:00 Uhr mit James verabredet. Das war eine gute Idee, denn ab 9:00 Uhr sollte es nicht mehr regnen – natürlich 😜 – und die Massen sind weit voraus.

Nach 767 Kilometern wird die Notration aus dem Alsdorfer Kaufland verzehrt

Durch die intensive Geschmackskultur habe ich in den letzten zwei Wochen an Gewicht zugelegt – ich bin eben ein Genussmensch. Ich sehe es an meinen Backen und an meinem Bauch und möchte jetzt in die neue Realität zurückkehren und alles auf ein gesundes Maß eindampfen. Daher gibt es zum Frühstück ein Monster, zwei Äpfel und einen Powersnack.

Eukalyptusbäume sind schnellwachsend und können bereits nach 10 Jahren für die Papierindustrie geerntet werden (sonstige Bäume brauchen 30 Jahre). Der Anbau neuer Eukalyptusbäume ist jedoch seit Juli 2021 verboten. Warum? Die abfallenden Rinden verrotten nicht, sind mit Öl getränkt und steigern dadurch die Brandgefahr erheblich. Zudem senken sie den Grundwasserspiegel und rauben allen anderen Bäumen die Feuchtigkeit.

Beim Kilometerstein 33,664 km ist es soweit, ich treffe Heidi – die gute Seele aus dem Internet – erlebe sie erstmals außerhalb der Virtualität.

Als ich in ihre Herberge geführt werde, klingelt das Telefon, eine Maria reserviert für morgen einen Schlafplatz – wie sich herausstellt ist es meine Maria. Ist das nicht verrückt?

Heidi ist eine ehemalige Steuer- und Unternehmensberaterin aus Österreich, die anschließend als Friedensdienerin in Bosnien/Kroatien bedürftige Menschen unterstützt hat und anschließend auf Mallorca eine erfolgreiche Glaserei betrieben hat.

Seit 2012 wohnt sie mit ihrem Rolf – der hier zum Cowboy transformierte – in „As Quintas“ an ihrem magischen Ort. Sie nennt ihn „Tabernavella, Heidi‘s place!“ den sie mit viel Liebe im Detail nach und nach geschaffen haben. Sie verteilt hier ihre italienische Lebensfreude und leckere Speisen als Pilger-Mama an ihre Schützlinge und erntet dafür Zufriedenheit und täglich neue Lebensgeschichten.

Heidi und Rolf haben alles selbst gebaut. Jeder Tisch, die Küche, der Kamin, das Badezimmer, die Lampen, … alles haben sie mit ihren Händen selbst geschaffen. Wenn sie mit ihren Baukünsten und ihrem Latein am Ende waren, kamen zur richtigen Zeit die richtigen Pilger vorüber und so wurde die Elektrik zur deutschen Qualität und die Bäume fachgerecht geschnitten. Das Ergebnis ist wunderschön, voller positiver Energie und man fühlt sich unendlich willkommen.

Der Rest der heutigen Pilgergruppe wird den „Camino Primitovo“ mit 310 sehr herausfordernder Kilometern in 11 Tagen morgen gemeinsam abschließen

Ursprünglich sollte es keine Herberge sein, aber bedürftige Pilger bettelten immer wieder um Unterschlupf, wurden in den Privatgemächern verteilt und so sprach es sich nach und nach rum, dass hier das Glück willkommen ist. Kurze Zeit später klopften die Autoren bekannter Reiseführer an und sorgten durch dezente Hinweise in ihren Reiseführern dafür, dass der Umbau immer mehr zur Herberge vollzogen werden musste.

Und natürlich wird stets weiter gebaut, sofern es spanische Behörden nicht verunmöglichen. Denn der Jakobsweg ist Weltkulturerbe und 14 m links und rechts davon sind besonders geschützt.

Ob das Modell überall funktioniert frage ich sie? Nein, denn am Ende des Caminos gibt es viele Pilger die aus Dankbarkeit gerne etwas zurückgeben. Es ist jedoch kein Business Model (Kopfsache) sondern ihre Lebensphilosophie (Bauchgefühl). Das ist einzigartig in dieser Form.

Wir sprechen darüber, welch positive Effekte der Camino mit sich bringt und das ich auf deren Kontinuität hoffe. Ernüchternd stellt Heidi dazu fest, dass die alte Welt einen schnell wieder in ihren Bann ziehen wird. Man muss täglich sensibel auf seinen Körper achten, aktiv daran arbeiten und innehalten – wenn nicht – dann holt einen der Camino erfahrungsgemäß zurück.

Sie stellt zudem fest, dass jede Veränderung nur den ersten Schritt bedarf und sich dann der Weg von alleine ebnet. Wenn man den Weg mit seinem Kopf durchsetzen will, wird es schwer. Nur wenn man nichts erwartet, bekommt man genau das, was man braucht.

Im Kopf - sagt Heidi - lebt die Gesellschaft, nur der Bauch weiß was man wirklich braucht.

Das hört sich esoterisch an, aber ich denke daran, dass ich viele Tage eine Wolke in Herzform für meine Sany am Himmel aktiv erwartet (quasi als Test) gesucht habe – erfolglos. Dann saß ich auf einem Stein, blickte ohne Erwartung nach oben und da war das Herz … seltsam.

Ein lang gesuchtes Herz für meine Sany ♥️

Heidi erzählt mir auch von „Bestellungen beim Universum“ und ich lausche zweifelnd (Gudrun kennt dies und wird jetzt lauthals in ihren Kaffee hineinlachen). Aber sie belegt mir mit vielen persönlich erlebten Erfahrungen, dass es für sie funktioniert. So kam der ersehnte Baumschneider, ein deutscher Elektriker, ein bezahlbares Haus auf Mallorca … ihre Alpakas und das für sie perfekte Grundstück – für das sie mehrere Caminos kämpfte. Alles zur rechten Zeit. Die „Bestellungen“ schreibt man laut Heidi positiv formuliert (keine Verneinung, kein „aber“, …) auf, liest sie durch, entsorgt den Zettel und muss dann die „Bestellung“ vergessen. Ihr hat es stets geholfen. Nun, ich bin bei dergleichen Dingen der ungläubige Thomas.

Jetzt ein kleiner Themenschwenk, denn ich nutze die Zeit mit Heidi auch für offene Fragen. Z.B. was hat die Kirche mit dem Ku-Klux-Clan zu tun.

Osterprozession der Sünder – hier ein Video dazu!

Die Mitgliedschaften in kirchlichen Gemeinschaften werden in Spanien vererbt und sind dort eine Ehre. Zugehörige Sünder müssen zur Osterprozession bzw. in der Karwoche zur Buße sehr schwere Marienstatuen durchs Dorf tragen. Um nicht erkannt zu werden, müssen sie Spitze- oder Henkersmasken tragen – wir kennen sie von Ku-Klux-Clan-Masken.

Wozu sind die kleinen Häuschen auf vielen Grundstücken? Sie dienen der Trocknung von Mais und sind geschütztes Weltkulturerbe.

Die Fortsetzung des geliebten Kunstwerkes. Eine gut inszenierte Bierwerbung

Danke liebe Heidi und lieber Rolf (aus Deutschland, Solingen) für diesen unvergesslichen Tag und die wahnsinnig köstlichen Speisen. Buen Camino!


Noch eine kleine Geschichte des Weges zum Schluss des heutigen Tages.

Vor ein paar Tagen erzählte mir jemand, dass ein Mann mit zwei Hunden unterwegs ist (ich habe ihn ebenfalls gesehen). Er kommt aus der Ukraine und hat durch den Krieg sein Bauernhof, seine Kühe und sein ganzes Hab und Gut verloren. Da er nicht weiter wusste, hat er sich wohl auf den Jakobsweg gemacht. Alles was er mit sich trägt, ist sein einziger Besitz. Er sucht einen Job auf einem Bauernhof und will später irgendwann zurückkehren. Ich frage mich, was man macht, wenn man sein ganzes Hab und Gut verloren hat? Geht man dann wandern? Nun ist es eine sehr valide Option. Ich wünsche ihm und seinen Hunden alles Glück der Welt.