Meine Zimmergenossin stürmt gegen 4:30 Uhr Morgens unser Herbergszimmer, welches wir uns mit einem Deutschen teilen, der alle Herausforderungen des Camino Francés tiefenentspannt mit der Batterie seines E-Bikes meistert. Ich frage sie, ob alles in Ordnung sei und sie teilt mir entsetzt mit, dass alle Räume verschlossen sind.
Ich schließe aus der spürbaren Dringlichkeit, dass auch die Toiletten – sie befinden sich üblicher Weise in Räumen – verschlossen sind und wundere mich darüber nicht. Hier in Spanien und insbesondere in der Herberge ist wirklich alles möglich.
Ich verspüre einen naheliegenden Wunsch, aber er ist mir offensichtlich verwehrt. Also drehe ich mich um und schließe die Augen und spare mir die Erleichterung wiederwillig für später auf.
Am Morgen erfahre ich, dass lediglich der Aufenthaltsraum verschlossen war. Wir müssen innerlich über den Interpretations(frei)raum, die daraus gewachsenen Missverständnisse lachen und laufen los.
Nach nur 11km machen wir Rast. Mein Schienbein ist zu dieser Zeit bereits so stark geschwollen, wie am Vortag nach stolzen 20km. Zur Abwechslung verfärbt es sich leicht – nennen wir es abgedunkelt, wie ein UV-Filter – und sorgt damit für ein ungutes Gefühl. Es sieht seltsam aus!
In der Bar angekommen, gibt es das fünfte Frühstück des Tages. Die erste Portion gab es in der „Herberge der verschlossenen Räume“, die Zweite war eine der 999 anderen Fliegen, die den ganzen Tag hochmotiviert um meinen Kopf schwirrten. Sie hat ihren Lebensmut genau im richtigen Moment, tollkühn mit Überschallgeschwindigkeit gezielt in meinen Rachen gesteuert. Dummer Weise haben es zwei ihrer Verwandten gesehen und es ihr gleich getan. Protein hab ich vorerst genug und passend zu meiner Beinfarbe bekomme ich in der Bar, Eis für meine Kühlung dieser. Das tut gut und das Bein schwillt etwas ab und auch die Farbe verwandelt sich in das übliche Rot. Es wird besser!
Was tun? Ich bin wirklich beunruhigt, zu tiefst betrübt und auch Astrid merkt, dass ich mental wirklich am Boden bin. Aber es wird weiter gehen, es muss eine Lösung geben. Ich kühle weiter und denke nach.
Es gibt kein Schicksal, es gibt nur Entscheidungen. Manche Entscheidungen sind leicht und manche nicht und das sind die, auf die es ankommt - die uns zu dem Menschen machen der wir sind, uns zum Ziel bringen oder auch nicht. Diese Entscheidung ist eine dieser Tragweite.
Ich habe drei ggf. auch vier Optionen. Ich laufe bis zum nächsten Dorf (8km) zur dortigen Herberge, kehre ein und verlasse mein geschätztes Team. Oder ich laufe die restlichen 13km bis zum Tagesziel und suche dort das „Centro de Salud“ auf. Alternativ könnte ich nach dem nächsten Dorf mit dem Taxi nach „Frómista“ fahren und dort einen Arzt oder Apotheker befragen. Ich könnte auch ein paar Tage mit dem Fahrrad fahren – sofern man diese leihen könnte. Ich weiß es nicht?
Warum geschieht dies? Ich habe die Blasen überlebt, jetzt laufe ich auf meiner Knochenhaut dahin und dann? Soll es meine Lektion sein, auf meinen Körper zu achten und dessen Grenzen zu respektieren. Ich denke mehr Achtsamkeit wäre grundsätzlich nicht verkehrt.
Oder gibt es doch so etwas wie Schicksal? Ich bekomme von einer Freundin aus den virtuellen Welten einen spirituellen Tipp, das Reiki bei einer Knochenhautentzündung Berge versetzen kann. Genau das ist es was ich brauche – mal eben einen Berg versetzt. Sie schreibt „ich müsste nur jemanden finden, der bei mir Reiki praktizieren kann“. Kein Problem, ich habe es vor über 15 Jahren bis zum Dritten Grad gelernt – um zu sehen, ob es tatsächlich funktioniert. Ich hatte zwar eindeutige Beweise bei Tieren, die keinen Placeboeffekt unterliegen können und habe es trotzdem seither nie wieder praktiziert. Man nannte mich damals den „ungläubigen Thomas“. Aber das gute an Reiki – man verlernt es nie.
Es ist zumindest einen Versuch Wert. Das ist der Funke Hoffnung nach dem ich gesucht habe, mein Strohhalm des Tages. Ich werde das Problem lösen und werde es schaffen weiter zu gehen.
Unser vierköpfiges Pilgerteam (Niederlande und Kanada) ist zu diesem Zeitpunkt bereits seit ca. 30 Minuten aus der Bar aufgebrochen und auf dem Weg nach Fórmista. Lediglich Astrid hat beschlossen, mich zu begleiten und mich zu unterstützen, auch wenn wir spät ankommen sollten. Die langsame Geschwindigkeit und zahlreichen Pausen sind auch für sie gut, sagt sie. Ein dickes Dankeschön dafür.
Die neue Hoffnung verleiht Flügel und wir holen die anderen Pilger bald ungewollt ein. Wie konnte das sein, wir sind doch nicht schneller unterwegs als sonst. Oder doch? Ich prüfe unsere Geschwindigkeit – nein, statt üblicher 4 bis 4,5 km/h sind wir stolze 5,4 km/h unterwegs – ohne es zu merken. Wir bremsen uns ein, aber es geht nicht. Nur sechs Kilometer vor dem Ziel kehren wir nochmals ein und ich kühle mein Bein und gebe schon mal eine Portion Reiki, zudem trinke ich weitere 1,5 Liter Wasser, … bis zum Abend sollen es fast 4,5 Liter sein.
Aber – zufällig (?) – sind wir nach 25,3km Fußmarsch in der Stadt „Frómista“ angelangt. Jetzt kommt der zweite, entscheidende Tipp – Heidi und auch mein Herbergsvater erinnern mich daran: Es ist die Stadt meines Beitrages vom 14.03. – mit der Wunderapotheke und des bekannten Apothekers mit seinen Heilelexieren. Das soll meine Lösung sein! Ein unendliches Dankeschön!!
Es dürfte nicht wesentlich überraschen, dass die Apotheke in der Nähe der zufällig gewählten Herberge liegt und zudem geöffnet hat. Ich irritierte das Personal, indem ich den Namen des Apothekers „Juan Ramón Rodríguez“ einfordere. Aber er ist nicht da und so verlassen beide freundlichen Pharmazeuten die Apotheke, um ihn von seinem privaten Zuhause zu holen. Er kommt – ich strahle bis hinter beide Ohren – und zeige mein Malleur. Er greift nachbdem Schienbein und stellt fest, dass er „die Sehne kratzen fühlen kann“.
Autsch – allein die Vorstellung tut weh – und ich denke auf Basis seiner Reaktion, dass mein Camino nun beendet ist.
Aber nein! Ich bekomme eine elastische Wadenbandage, eine selbst gebraute Wunder-Creme für das Schienbein, und eine weitere für Wasserblasen dazu. Das Beste ist, ich kann weiterlaufen!
Ich muss morgends und Abends cremen und die Schiene tagsüber tragen – 10 bis 14 Tage – und das war’s. So einfach zu lösen wie meine Sehnenscheidenentzündung durch mein Training mit den Wanderstöcken – ihr erinnert euch vielleicht.
Ein Traum, wir gehen essen – die besten Spearrips und die beste selbstgemachte Sangria der Welt. Natürlich – ich bin überglücklich, da ich keine Pause machen muss.
Ich bin unendlich dankbar – Buen Camino!