#Tag 6: 666 – the number of the beast

Wer die Wahl hat, hat die Qual? Nein, der hat die Freiheit zu entscheiden. Auch wenn dies nicht immer einfach ist, da die Konsequenzen oftmals nicht absehbar sind. 

Und genau vor so einer Entscheidung stand ich heute: Nach dem Aufstehen bleibt der weitere Verlauf für mich zunächst unklar. Was ist besser? Der Weg zu einem Arzt, der den Blasen an meinen Füßen helfen kann – oder den Weg mit meiner Pilgerfamilie geniesen und dabei das Risiko eines Totalausfalls einzugehen.

Ich entscheide nach dem morgendlichen Packen meines Rucksacks spontan und wähle unsere Gemeinschaft. Und das ist auch gut so!

Tag 6 – 666 km bis zum Ziel. Wir haben bislang im Schnitt 23,82 km/Tag zurückgelegt und waren dabei jeweils ca. 9h an der frischen Luft. Stand heute Abend sind es nur noch 633 km bis „Santiago de Compostela“.

Wir haben heute ein Wegstück von 21,6 km mit mittlerer Schwierigkeit gewählt und sind bei leichtem Regen losmaschiert. Nach wenigen Metern wurden wir von einem Schild darauf aufmerksam gemacht, dass es „nur“ noch 666 km bis „Santiago di Compostela“ sind. Das bedeutet auch, dass die ersten 100 km gestern völlig unscheinbar an uns vorübergezogen sind. Keine Party, keine laute Musik – nichts und das ist auch gut so.

Der Weg ist wunderschön und führt uns über bewaldete Berge und beglückt uns mit wunderschönen Aussichten auf kleine Hügel – einzigartig. Meine Laune ist bestens und die Diclofenac leistet ihre Dienste und ermöglicht mir einen wunderschönen Marsch – bis zum Ziel „Los Arcos“.

Wichtig ist, dass die zweite Tablette rechtzeitig eingenommen wird, da der Lauf ansonsten einer watschelnden Ente gleicht. Heute war ich so eine Ente!

Die kleine Raupe „Nimmersatt“ hatte offensichtlich Lust auf Polonaise und beglückt uns mit einer Wanderschlange von ca. 1,5 Metern länge. Natürlich in Richtung „Santiago de Compostela“ 🤣😂🤣. Mal schauen ob ich – watschelnder Weise – in ca. 5 Wochen vor den Raupen am Ziel bin.

Bereits am Vormittag sind wir im Weingebiet in der „Navarra“ angekommen – pünktlich zur Weinprobe.

Es war zwar etwas früh, aber natürlich wollte der Wein aus dem Wasserhahn an der Wand getestet werden. Man geht eigentlich davon aus, dass es ein billiger Wein wäre der einem ein Schütteln bis in den letzten Zeh treibt, aber nein – wir wurden eines besseren belehrt.

„Wanderer! Wenn du Santiago gestärkt und gesund erreichen möchtest, dann trinke einen Schluck von diesem Wein und stoße an, auf die Fröhlichkeit.“

Es handelt sich um einen „Tinto Irache“ welcher seit 1981 produziert wird und der im darüberliegenden Ladengeschäft für 6 Euro erstanden werden kann. Wie lecker er schmeckt – seht selbst:

Daran könnte man sich gewöhnen, der Wein fließt in „Bodegas Irache“ aus dem Weinhahn und stärkt die Wanderer.

Wir machen eine Mittagspause in einer spanischen Kneipe und dort treffe ich meine Wanderfreunde wieder (als Ente). Und natürlich ist auch diese Kneipe gut besucht von älteren Männern, die sich mit einem lokalen Wein begnügten. Warum gibt es bei uns keine Kneipenkultur mehr?

Dieses fröhliche Beisammensein strahlt eine angenehme Lebensfreude aus und zeigt welchen anderen Fokus es in Spanien gibt. Die Kneipen sind nicht schön, sie sind zweckmäßig und dienen der spanischen Lebenskultur.

Gegen 19:00 Uhr treffen wir am Ziel in „Los Arcos“ in unserer heute privaten Herberge ein. Wir werden mit leckerem Essen empfangen und ziehen nur die Schuhe (ein Gruß an die Nase) und Rucksack aus und setzen uns zu den anderen – bekannten Pilgern.

Und natürlich genießen wir unseren Salat, den Linseneintopf und die Eistorte zum Nachtisch. Dazu gibt es leckeren Wein!

#Tag 5: out of order

Meine Blasen fühlen sich bei mir sichtlich wohl. Sie sind bestens genährt und sie stehen im Saft wie eine frisch gefüllte Maultasche in ihrer Suppe. So verzieren sie nun fast meine gesamten Füße. Auch schön, hat man ja nicht alle Tage.

Nach unserem leckeren Abendessen – Pferde-Burger mit Wein – habe ich mich gestern Abend an den Tipp des Apothekers gemacht und das Werkzeug zur Öffnung angesetzt. Soweit erfolgreich, bis ich mich an die Ballen machte. Die Blasen an den Ballen haben sich strategisch perfekt platziert und sitzen so tief versteckt in ihrer Festung, dass sie nach meiner Arbeit lediglich durch kleine, oberflächliche Schnitte verziert scheinen.

Anders formuliert, habe ich jetzt nicht nur Blasen die auf den steinigen Wegen, die wie Wackelpudding glibbern. Sondern auch noch offene Stellen, die sich gerne hinzuschalten und mich darauf aufmerksam machen, dass meine Füße eine Pause wünschen.

Heute Morgen habe ich eine Diclofenac zur Verteidigung eingesetzt und wir sind los gewandert. Ziel waren 21,9 km und natürlich machten sich meine neuen Freunde alsbald möglich bemerkbar. Als Verstärkung haben sie meinen Rückenmuskeln hinzugeschaltet und sie alle zusammen konnten mir erfolgreich den Spaß nehmen.

So wanderte ich mit wirklich schlechter Laune vor mich hin und nach nur 5 km mussten wir eine Pause machen. Wie fanden eine geöffnete Bar gefüllt mit einheimischen Männern die alle Wein tranken und haben einen Eier-Kartoffelauflauf gegessen. Wer mich kennt weiß, das Nudeln besser gewesen wären. Aber es hat dennoch außergewöhnlich gut geschmeckt.

Jessica und Sillian sind nach dem Essen verschwunden und kamen mit einer Aufheiterung in Form von zwei leckeren – von mir geliebten – Monster-Energy-Dosen zurück – ist das nicht wundervoll ❤️❤️❤️? Ich habe mich wie ein kleines Kind gefreut!

Damit konnte es weitergehen.

Die Füße und der Rücken waren zunächst freundlich gestimmt. Das Pferd vom Vortag in meinem Magen hat aber am Ende auch nicht geholfen – der Körper siegt – und nach etwas mehr als die Hälfte der Strecke meiner Wanderung musste ich das Handtuch werfen. Ich bin in ein Taxi gestiegen und in die Herberge gefahren.

Ich habe in der Herberge mit vielen Leuten über deren Erfahrung gesprochen. Manche von ihnen empfehlen sie zu Bandagieren und zu ignorieren, andere sagen man solle eine Woche Auszeit nehmen.

Wie es weiter geht? Keine Ahnung. Vielleicht suche ich einen Arzt auf, vielleicht laufe ich langsamer weiter, vielleicht muss ich mich von unserer Gemeinschaft trennen … das wäre sehr schade.

#Tag 4: neue Horizonte

Heute bin ich den größten Teil der Strecke von 28,5km alleine gewandert und habe dabei viel über den Weg und das Leben nachgedacht. Immer wieder haben mich die Gedanken, die Schönheit des Weges und Zeit die man sich dort schenkt, zu tiefst berührt. Der „Camino Francés“ ist eine wundervolle Erfahrung.

Montaña del perdón – Der Gipfel liegt nach 500 Höhenmetern in der Mitte der heutigen Wanderung. Seine Geschichte wie auch die, des dort befindlichen Monuments möchte ich nicht vorenthalten:

Unter der Diktatur von „Franzisco Franco“ sollten alle Widerstände gegen seine Macht gebrochen werden. Er wollte die spanische Sprache bei dem von ihm beanspruchten Volk durchsetzen und dabei wurden alle wiederständischen Basken getötet. 39 von ihnen wurden leblos auf den Berg verbracht und dort gefunden – seitdem trägt er den Namen „Montaña del perdón“ (Berg der Verzeihung).

Monument aus Stahl auf dem Berg der Verzeihung.
Ein Denkmal für jene Menschen, die beim Widerstand gegen das Regime von Franco gefallen sind. Die Steine tragen die Namen der am Berg gefundenen Toten. Der große Stein in der Mitte steht für alle, die nicht identifiziert werden konnten.

Die vielen Eindrücke heute und die Zeit des Weges prägen meine Gedanken und daher könnte es nun etwas philosophisch werden, wenn ich über Perspektiven, die Pilgergruppe oder die Empfindung berichte. Vielleicht geben sie den einen oder anderen Denkanstoß?

1. Perspektiven: Der Weg spiegelt in gewisser Weise das Leben wieder. Jeder Hügel, jeder Berg bringt neue Horizonte und Perspektiven - neue Hügel, neue Täler und neue Wege, … - und diese gestalten die eigene Zukunft. Der Blick zurück zeigt die Vielfalt der vergangenen Handlungsoptionen. Die Freiheit über den nächsten Schritt bzw. die Wahl des neu entdeckten Weges, die diese neue Perspektiven mit sich bringen, ist jedem gegeben und verändern seine Zukunft. Nur demjenigen der still steht, dem bleiben sie für wohl immer verwehrt. 
Denkt man darüber nach, so sind viele Wege und deren Beschaffenheit durch tektonische Verschiebungen entstanden. Diese äußeren Faktoren beeinflussen unweigerlich den eigenen Weg. 

So hat mir mein Abstieg vom Berg über Geröll und Fels leider vier weitere Wasserblasen (zwei davon tiefsitzend unter beiden Ballen) beschert. ich hoffe, dass sie keine Zwangspause mit sich bringen.

Ein wachsender Gedenkplatz für einen verstorbenen Menschen. Viele Pilger fügen einen Stein hinzu.
2. Pilgergemeinschaft: Die durch das Pilgern verbundene Gemeinschaft wird durch den Startzeitpunkt verknüpft und ich bin froh und dankbar, Teil einer so vielseitigen und wundervollen Pilgergruppe zu sein. Man erlebt die Zeit gemeinsam, tauscht Erfahrungen aus und sammelt auch hier neue Perspektiven. Man geht auseinander und läuft sich wieder über den Weg, man hilft sich gegenseitig und ergänzt sich mit seinen Fähigkeiten und Erfahrungen und kann sich aufeinander verlassen. Eine wunderschöne Erfahrung! Danke liebe Freunde!
Ein Teil unserer Pilgergruppe vor Arena von Pamplona, dem Startplatz der Straßenstierkämpfe.
3. Empfindung: Ist das Empfinden lediglich eine Frage der Perspektive? Ich habe viel über die Schmerzen von gestern nachgedacht. Sie waren gestern den ganzen Tag präsent und haben einen großen Teil des Tages eingenommen. Nachdem wir für kurze Zeit pausiert hatten, waren sie für den Rest des Tages verschwunden. Ich dachte darüber nach, was sich geändert hat, denn alle Rahmenbedingungen blieben unverändert und entsprechend könnte es nur eine Frage der Perspektive sein?! Ich frage mich, ob der Rückenschmerz durch den Rucksack eine Frage der eigenen Perspektive ist? Wie auch immer, konnte ich gestern den Schmerz des Rucksacks über 28,5Km erfolgreich ignorieren. Wie? Ich habe ihn akzeptiert und anerkannt - wäre schön, wenn es immer so einfach bliebe. Etwas später sollte ich lernen, dass der Schmerz nur der Aufschrei des Körpers nach einer Pause ist. 

Buen camino!

#Tag 3: Der Feind des Fortschritts ist die Gewohnheit

Der Start in den dritten Tag war perfekt. Gut und lange geschlafen und dann gab es zum Frühstück reichlich Nudelsuppe und Fruchtsalat vom Vorabend. Was kann es besseres geben?

Heute war laut Plan der einfachste Tag seit Sonntag. Nur 21km nach Pamplona mit unwesentlichen Steigerungen. Nach dem erfolgreichem Tag gestern, sollte das machbar sein. Oder?

Leider nein, denn diese entspannte Grundeinstellung (ich dachte mein Körper hat sich bereits an das Wandern gewöhnt) hat meinen Körper offensichtlich auf Komfortzone „Sofa“ umprogrammiert. Denn bereits wenige Meter nach dem Verlassen der Herberge (im strömenden Regen) schmerzte der Rücken fast unerträglich. Und das sollte noch eine Weile bleiben.

Kurz vor der Aufgabe des Tourabschnittes und damit auch den Ausstieg aus unserer Gemeinschaft, entschieden wir uns einen Kaffee zu trinken und zu sehen wie sich der Schmerz entwickelt.

Das erste Café hatte aufgrund von Hochwasserschäden geschlossen und man versicherte uns, nach nur vier weiteren Kilometern ein leckeres Kaffee vorzufinden. Die Entfernung betrug jedoch stolze 7km und auch dieses Café hatte keine Lust auf Gäste. Eine Dame die unsere Frustration bemerkte, berichtete uns einer nahegelegenen Stadt, mit einem wirklich guten Kaffee. Aber auch dieses war im temporären Ruhestand und so kam es, dass ich trotz meiner Rückenschmerzen das Ziel erreichte und kurz davor mit einem Bier belohnt wurde. Danke – Camino Francés

Die Stadt Pamplona ist übrigends bekannt für die im Juli stattfindenden Stierläufe wo die Stiere von brunftgetriebenen und übermutigen Läufern durch die Straßen getrieben werden. Wir konnten weder übermutige Jünglinge noch freilaufende Stiere sehen. So sind wir sicher und zufrieden aber spät (20:00 Uhr) in der „Albergue Almagne“ gelandet.

In der Herberge wurden wir sehr freundlich von den deutschen Herbergsmüttern aus der Partnerstadt Paderborn empfangen und mussten uns erneut an eine 22:00 Uhr Regelung halten. Dieses Mal jedoch ohne Nachtwächter und gregorianische Schreckensmusik am Morgen. Gegen ein kleines Entgelt hat man uns die Wäsche gewaschen und getrocknet – während wir im Restaurant „Irunr“ königlich schlemmten, das Ernest Hemingway schätzte.

Fazit des Tages:

1. Habe stets Respekt vor den unspektakulären Dingen - sie bergen unerwartete Herausforderungen. 

2. Kleine Belohnungen zwischendurch sind die beste Motivation, sollten dosiert aber ausgiebig sein.

3. Verlasse dich niemals auf potentiell existente Lokalitäten oder geschätzte Entfernungen, es sei denn du willst dich damit erfolgreich (mit einer weiteren Blase) bis zum Ziel „durchmogeln“.

#Tag 2: spanische Herberge und Buchsbaumwälder

Knapp 50 km hinter uns und nur noch 790 km bis zum Ziel des Jakobswegs: Santiago di Compostela. Quasi ein gemütlicher Spaziergang.

Man stelle sich vor, man sei nach langem Fußmarsch in der Herberge (einem wunderschönen Kloster in Roncesvalles) angelangt und wird völlig entkräftet, übermüdet und erschöpft zunächst mit einem strengen Regelwerk konfrontiert. Das Ganze wird verbalakrobatisch so verpackt, dass man den Ärger schon spüren kann und man weiß, dass jeder Verstoß gnadenlos geahndet werden dürfte und hier keine Ausnahme die Regel bestätigt.

Die erste Reifeprüfung naht: der „Schlafinspektore“ schwebt in seiner Uniform 20 Minuten vor 22:00 Uhr gleichmäßig und mit konstanter Geschwindigkeit vorüber und verkündet die nahende Schlafenszeit. Das gleiche wiederholt sich 10 Min. später nochmals und dann folgen noch zwei nachgelagerte Kontrollgänge, bei denen jede Form der Elektrizität strengstens unterbunden wird. Entsprechend ruhig ist die Nacht und wird lediglich vom regelmäßig wiederkehrenden Gebläse des Handtrockners im Sanitärraum unterbrochen.

Der Morgen beginnt mit hellem Licht und gregorianischen Gesängen, gefolgt von Punkmusik der 80iger und endet mit dem französischen Chason „Je t‘-aime“. Ich vermute zunächst schlaftrunken, dass ein Nachbar einer nahestehenden Koje seinen Wecker auf voller Lautstärke vergessen hat. Fehlanzeige, es ist offizielle Aufstehzeit, damit alle den Schlafsaal pünktlich bis 8:00 Uhr verlassen. 20 Minuten vor 8:00 Uhr schwebt der „Aufwachinspektore“ vorüber und verkündet monoton, aber bestimmt, dass die Zeit des Exits naht. Gleiches wiederholt sich 10 Minuten später und um 8:00 Uhr wird einfach das Licht abgestellt und die verbleibenden Gäste zücken ihre Stirnlampen. Diese kleinen Erfahrungen haben den Aufenthalt zu etwas besonderen gemacht und ich bin dankbar.

Gegen 9:00 Uhr geht es los – in einen Tag mit 21 km Wegstrecke. Die Steigungen sind nicht so dramatisch und es geht einen großen Teil der Wegstrecke bergab. Wir wandern den Pferdekoppeln entlang die Hügel hinauf und hinunter und kommen in einen träumerischen Buchsbaumwald. Das dunkle grün und die vermoosten, vielästigen Stämme sind wirklich beeindruckend.

Ein wunderschönes wildwachsendes Buchsbaumgebiet und endlos bemooste Baumstämme in der Nähe von Zubiri.

Der Wandertag endet ähnlich dem gestrigen. Sobald die letzten 4 km angebrochen sind, zieht sich das Finale wie Kaugummi. Ich überlege wie man die Motivation bis zum Schluss aufrecht erhalten kann – leider Ergebnislos. Dieses mal war es nicht die Steigung, sondern der felsige Bodengrund und das Geröll, das uns nochmal alles abverlangte – denn nur ein Fehltritt könnte das Ende des Jakobsweges bedeuten.

Am Abend sind wir in einer privaten Herberge, schnippelten Gemüse und wurden von Silian lecker mit einem 4-Gängemenü (Gemüsesuppe, Ziegenkäse und Champinon-Pasta, Karotteneinlage und Obstsalat) bekocht. Anschließend konnte ich meine erste große Wasserblase an der Ferse versorgen (eine kritische Stelle wie ich erfahre). Hoffen wir mal, dass diese nicht zum Problem wird.

Es war ein wunderschöner Tag – in diesem Sinne gute Nacht 🌙.

#Tag 1: „Gehe deinen Weg mit dem Herzen, nicht mit dem Verstand“

Der Herbergsvater erklärte, dass der Camino Francés kein Sport sei, bei dem man etwas beweisen müsse. Sondern das man diesen nach seiner inneren Stimme – mit Gefühl (mit dem Herzen) – gehen solle. So wollte ich es auch …

Ich war also fest entschlossen mit nur 11 km langsam zu starten, glaubte dann aber an mehr – wollte weiter und den gesamten Königsweg der ersten Etappe bezwingen. Das geht natürlich nur solange gut, wie der Körper und die Kraft mitspielen – dass sollte ich heute lernen!

Am Ende waren es ca. 28 km bei 1.100 Höhenmeter mit einem 10 kg Rucksack in ca. 11 Stunden mit immerhin 3.134 verbrauchten Kalorien.

Zwei Pilgerinnen Jessica mit ihrer Mutter Maria aus Venezuela und ein erfahrener, hilfsbereiter Pilger Sillian aus Italien als Mitstreiter am Tag 1

Die Motivation und Kraft hat mich 4 km vor dem Ziel verlassen und das vor dem steilsten Stück – 700 mühsam verbliebene Höhenmeter durch die Wildnis: non-stop. Zur Intensivierung meines ersten Nullpunktes wollten dann noch mehrere umgestürzte Bäume überklettert werden und damit zog sich der Fortschritt grenzenlos. Welch ein Glück, dass ich den – nicht enden wollenden – Wettlauf gegen die Dunkelheit nicht alleine bestreiten musste.

Nach 11h – die Erlösung durch das Gipfelkreuz ♥️

Mein Gesamtfazit für heute:

Vom Gipfel nur 23 Min Abstieg bis zur wunderschönen „Albergues in Roncesvalles“ mit 3-Gängemenü im „Casa Sabina“ – unendlich glücklich, lecker und dankbar 😊
1. Der Weg ist wie das Leben: du gehst den Berg steil nach oben und wunderst dich (zunächst), wie schnell man an Höhe gewinnt. An der nächsten Biegung geht es wieder hinab ins Tal. Aber wenn du weitergehst, kommst du weiter … zum Ziel! 

2. Die Perspektive macht die Motivation, den Antrieb und das macht den Unterschied - „ich will …“ versetzt Berge, „ich muss …“ setzt sie. Die Grenze setzt am Ende der Körper selbst.

3. Lerne deine Grenzen besser behutsam kennen.

Buen Camino!

#Tag 0: Der erste Schritt

Nach einer unvergesslichen Überaschungsfeier zum Abschied (mit Freudentränen in meinen Augen), der zugehörigen, üppigen Henkersmahlzeit, der unerwarteten Geschenke zum Pilgern und einem kleinen Lederbuch – vollgepackt mit Liebe und schönen Erinnerungen für erschwerliche Tage – ist meine Familie mit mir heute Morgen um 6:30 Uhr zum Testzentrum gestartet.

Die Jakobsmuschel – das Erkennungsmerkmal der Pilger (abgesehen vom Rucksack mit Stöcken)

Das Testzentrum öffnet mit deutscher Pünktlichkeit zum Paukenschlag um 7:00 Uhr. Flott getestet und für negativ befunden, bin ich dann auf Schienen nach Paris geglitten.

Gare Montparnasse in Paris – wie sich später rausstellt straucheln alle Pilger gleichermaßen an der usability der Gleisanzeige

Mein Französisch reicht offensichtlich gerade noch aus, um den richtigen Zug zu finden und die Wartezeit wird dazu genutzt, schon mal vorzufühlen, was zu viel Gepäck bedeutet.

Etwas Nieselschauer erwartet mich und ca. 10 weitere neue Pilger gegen 20:00 Uhr in „Saint-Jean-Pied-de-Port“ am Fuße der Pyränen. Der erste Weg geht zum Pilgerbüro und dann in ein gemütliches Etagenbett in einem privaten Hostel.

Mit dem ersten Stempel brennt sie lichterloh – die Vorfreude auf einsame Schritte, die Tage am Limit und die Zeit mit mir selbst. Willkommen Gedanken! Willkommen auf der Reise zum Nullpunkt! Buen Camino!

Resumé der Vorbereitung: weniger ist mehr!

Noch 4 Tage bis zur Abreise und ein Resumé ist angebracht: Ich habe meine erfolgskritische Hüfte durch Gewichtsabnahme (8kg) in den letzten 4 Wochen (gesunde Ernährung), 6x Physiotherapie und laufenden Dehnübungen gestützt, Rückenschmerzen mit Gewichtsreduktion bekämpft und aktive Gewichtsverlagerung durch Wanderstöcke und (Dehn-)Pausen erlernt …

Heute ist es gekommen – das letzte Wandertraining mit nur 16km – das Ergebnis: das Handgelenk schmerzt nahezu unerträglich. Das ernüchternde Ergebnis der Untersuchung beim Arzt: Sehnenscheidenentzündung – vermutlich durch das Wanderstocktraining – 14 Tage Verzug.

Was habe ich bislang gelernt?

1.Weniger ist mehr: weniger Luxus ist weniger Gewicht auf den Rücken und auf den Rippen. Weniger Training und weniger Verlagerung der Problemzonen führt zu weniger Nebenwirkungen.

2. Gesundheit ist ein kostbares Gut: sie will aufmerksam behütet werden, ein ganzes Leben lang und nicht erst wenige Wochen vor dem Start.

3.Pausen zur Reflektion: sie dienen dazu auf Signale zu achten, zum Feinjustieren der Maßnahmen und der Strategie.

NACHTRAG vom 03.03.: 4. Der Wille versetzt Berge – die Selbstheilung des Körpers ist phänomenal und manchmal geht es schneller als man denkt! Der 05.03. bleibt gesetzt – auch wenn es nicht einfacher wird mit leichten Blessuren des Trainings zu starten.

Startpunkt gesetzt!

Wahnsinn, da wird man durch Corona ausgebremst, dann kommt noch ein verlockendes Interview mit mir zum Thema „Marktplätze“ am 03.03. dazwischen und jetzt wurde gebucht.

Heute habe ich drei Stunden alle Optionen ausgelotet, Foren durchwühlt, Verbindungen analysiert, Preis-Leistung verglichen und am Ende mit gutem Bauchgefühl entschieden. Am Samstag den 05.03.2022 um 7:22 Uhr geht es los!

Statt mit dem Flugzeug oder Bus gehts los mit der Bahn. Mit dem Thalis zum „Gare du Nord“ in Paris, dort mit der Métro zum „Gare Monteparnasse“ und von dort mit dem SNCF nach „Bayonne“ – 159,- Euro. Mit der letzten Bummelbahn des Tages (hoffentlich) geht es dann nach „Saint Jean Pied de Port“ dem Startpunkt meiner 800 km lange Wanderreise.

Zur Sicherheit eine eine gehörige Portion online Recherche?!

Mit der Entspannung kommt der Flow

Ich nutze die Zeit der Genesung und lese viel, schaue Videos über den Jakobsweg und stelle immer wieder fest, dass sich offensichtlich nur die Anfänger (wie ich) dermaßen übertrieben vorbereiten. Ich fühle mich ertappt: denn ruft hier etwa das Streben nach Sicherheit 😉 ?

Eine Videodokumentation gibt mir zu denken: ein junger Mann wandert seit Tagen den „Camino Frances“ verbissen weiter und versucht seinen Schmerz zu ignorieren. Fast am Ende seiner Kräfte trifft er auf einen Deutschen, der ihm erklärt „er würde Genau so wandern, wie wir Deutschen arbeiten – da ist sie wieder ‚unsere Leistungskultur‘. Wir Deutschen geben alles bis zur Erschöpfung, um später in der Rente das Leben zu genießen.“ Er gibt auch alles, um die Herberge und/oder sein Tagesziel zu erreichen um dann erst die Füße zu schonen.

Ich erkenne mich wieder und will mich zu Anbeginn des Weges daran erinnern. Denn es geht vielmehr darum, den Weg und die kostbare Zeit auf diesem zu genießen, statt ihn abzuleisten. Dazu gehören Pausen, Auszeiten und vor allem die Bedürfnisse seines Körpers ernst zu nehmen und zu akzeptieren.