#Tag 20: Hoffnung verleiht Flügel

Kanada, Frankreich, Australien, Niederlande, Deutschland … der kulturelle Mix ist wirklich erstaunlich.

Meine Zimmergenossin stürmt gegen 4:30 Uhr Morgens unser Herbergszimmer, welches wir uns mit einem Deutschen teilen, der alle Herausforderungen des Camino Francés tiefenentspannt mit der Batterie seines E-Bikes meistert. Ich frage sie, ob alles in Ordnung sei und sie teilt mir entsetzt mit, dass alle Räume verschlossen sind.

Ich schließe aus der spürbaren Dringlichkeit, dass auch die Toiletten – sie befinden sich üblicher Weise in Räumen – verschlossen sind und wundere mich darüber nicht. Hier in Spanien und insbesondere in der Herberge ist wirklich alles möglich.

Ich verspüre einen naheliegenden Wunsch, aber er ist mir offensichtlich verwehrt. Also drehe ich mich um und schließe die Augen und spare mir die Erleichterung wiederwillig für später auf.

Am Morgen erfahre ich, dass lediglich der Aufenthaltsraum verschlossen war. Wir müssen innerlich über den Interpretations(frei)raum, die daraus gewachsenen Missverständnisse lachen und laufen los.

Nach nur 11km machen wir Rast. Mein Schienbein ist zu dieser Zeit bereits so stark geschwollen, wie am Vortag nach stolzen 20km. Zur Abwechslung verfärbt es sich leicht – nennen wir es abgedunkelt, wie ein UV-Filter – und sorgt damit für ein ungutes Gefühl. Es sieht seltsam aus!

In der Bar angekommen, gibt es das fünfte Frühstück des Tages. Die erste Portion gab es in der „Herberge der verschlossenen Räume“, die Zweite war eine der 999 anderen Fliegen, die den ganzen Tag hochmotiviert um meinen Kopf schwirrten. Sie hat ihren Lebensmut genau im richtigen Moment, tollkühn mit Überschallgeschwindigkeit gezielt in meinen Rachen gesteuert. Dummer Weise haben es zwei ihrer Verwandten gesehen und es ihr gleich getan. Protein hab ich vorerst genug und passend zu meiner Beinfarbe bekomme ich in der Bar, Eis für meine Kühlung dieser. Das tut gut und das Bein schwillt etwas ab und auch die Farbe verwandelt sich in das übliche Rot. Es wird besser!

Was tun? Ich bin wirklich beunruhigt, zu tiefst betrübt und auch Astrid merkt, dass ich mental wirklich am Boden bin. Aber es wird weiter gehen, es muss eine Lösung geben. Ich kühle weiter und denke nach.

Es gibt kein Schicksal, es gibt nur Entscheidungen. Manche Entscheidungen sind leicht und manche nicht und das sind die, auf die es ankommt - die uns zu dem Menschen machen der wir sind, uns zum Ziel bringen oder auch nicht. Diese Entscheidung ist eine dieser Tragweite. 

Ich habe drei ggf. auch vier Optionen. Ich laufe bis zum nächsten Dorf (8km) zur dortigen Herberge, kehre ein und verlasse mein geschätztes Team. Oder ich laufe die restlichen 13km bis zum Tagesziel und suche dort das „Centro de Salud“ auf. Alternativ könnte ich nach dem nächsten Dorf mit dem Taxi nach „Frómista“ fahren und dort einen Arzt oder Apotheker befragen. Ich könnte auch ein paar Tage mit dem Fahrrad fahren – sofern man diese leihen könnte. Ich weiß es nicht?

Warum geschieht dies? Ich habe die Blasen überlebt, jetzt laufe ich auf meiner Knochenhaut dahin und dann? Soll es meine Lektion sein, auf meinen Körper zu achten und dessen Grenzen zu respektieren. Ich denke mehr Achtsamkeit wäre grundsätzlich nicht verkehrt.

Oder gibt es doch so etwas wie Schicksal? Ich bekomme von einer Freundin aus den virtuellen Welten einen spirituellen Tipp, das Reiki bei einer Knochenhautentzündung Berge versetzen kann. Genau das ist es was ich brauche – mal eben einen Berg versetzt. Sie schreibt „ich müsste nur jemanden finden, der bei mir Reiki praktizieren kann“. Kein Problem, ich habe es vor über 15 Jahren bis zum Dritten Grad gelernt – um zu sehen, ob es tatsächlich funktioniert. Ich hatte zwar eindeutige Beweise bei Tieren, die keinen Placeboeffekt unterliegen können und habe es trotzdem seither nie wieder praktiziert. Man nannte mich damals den „ungläubigen Thomas“. Aber das gute an Reiki – man verlernt es nie.

Es ist zumindest einen Versuch Wert. Das ist der Funke Hoffnung nach dem ich gesucht habe, mein Strohhalm des Tages. Ich werde das Problem lösen und werde es schaffen weiter zu gehen.

Unser vierköpfiges Pilgerteam (Niederlande und Kanada) ist zu diesem Zeitpunkt bereits seit ca. 30 Minuten aus der Bar aufgebrochen und auf dem Weg nach Fórmista. Lediglich Astrid hat beschlossen, mich zu begleiten und mich zu unterstützen, auch wenn wir spät ankommen sollten. Die langsame Geschwindigkeit und zahlreichen Pausen sind auch für sie gut, sagt sie. Ein dickes Dankeschön dafür.

Mein Bein ist nach der regelmäßigen Kühlung, den zahlreichen Pausen und meinem neuen Hoffnungsschimmer wesentlich weniger geschwollen und nur noch im Standard-Rot

Die neue Hoffnung verleiht Flügel und wir holen die anderen Pilger bald ungewollt ein. Wie konnte das sein, wir sind doch nicht schneller unterwegs als sonst. Oder doch? Ich prüfe unsere Geschwindigkeit – nein, statt üblicher 4 bis 4,5 km/h sind wir stolze 5,4 km/h unterwegs – ohne es zu merken. Wir bremsen uns ein, aber es geht nicht. Nur sechs Kilometer vor dem Ziel kehren wir nochmals ein und ich kühle mein Bein und gebe schon mal eine Portion Reiki, zudem trinke ich weitere 1,5 Liter Wasser, … bis zum Abend sollen es fast 4,5 Liter sein.

Aber – zufällig (?) – sind wir nach 25,3km Fußmarsch in der Stadt „Frómista“ angelangt. Jetzt kommt der zweite, entscheidende Tipp – Heidi und auch mein Herbergsvater erinnern mich daran: Es ist die Stadt meines Beitrages vom 14.03. – mit der Wunderapotheke und des bekannten Apothekers mit seinen Heilelexieren. Das soll meine Lösung sein! Ein unendliches Dankeschön!!

Es dürfte nicht wesentlich überraschen, dass die Apotheke in der Nähe der zufällig gewählten Herberge liegt und zudem geöffnet hat. Ich irritierte das Personal, indem ich den Namen des Apothekers „Juan Ramón Rodríguez“ einfordere. Aber er ist nicht da und so verlassen beide freundlichen Pharmazeuten die Apotheke, um ihn von seinem privaten Zuhause zu holen. Er kommt – ich strahle bis hinter beide Ohren – und zeige mein Malleur. Er greift nachbdem Schienbein und stellt fest, dass er „die Sehne kratzen fühlen kann“.

Autsch – allein die Vorstellung tut weh – und ich denke auf Basis seiner Reaktion, dass mein Camino nun beendet ist.

Aber nein! Ich bekomme eine elastische Wadenbandage, eine selbst gebraute Wunder-Creme für das Schienbein, und eine weitere für Wasserblasen dazu. Das Beste ist, ich kann weiterlaufen!

Wohl bekanntester Apotheker auf dem Camino: Juan Ramón Rodríguez Medina Av. del Ingeniero Rivera, 21, 34440 Frómista

Ich muss morgends und Abends cremen und die Schiene tagsüber tragen – 10 bis 14 Tage – und das war’s. So einfach zu lösen wie meine Sehnenscheidenentzündung durch mein Training mit den Wanderstöcken – ihr erinnert euch vielleicht.

Ein Traum, wir gehen essen – die besten Spearrips und die beste selbstgemachte Sangria der Welt. Natürlich – ich bin überglücklich, da ich keine Pause machen muss.

Elastische Wadenbandage, durchblutungsförderndes, aber dennoch kühlendes Gebräu sowie eine Creme gegen Wasserblasen

Ich bin unendlich dankbar – Buen Camino!

#Tag 19: Eiszeit

Über den Camino Frances sagt man: von „Sant Jean Pied de Port“ bis „Burgos“ (habe ich gerade beendet) prügelt einem der Camino das alte Leben raus, zerstört unser altes Ich. Von Burgos bis Leon (ich wechsle gerade in diese Etappe) öffnet man sich für neue Ideen, Gedanken und wird aus den Trümmern des alten Ichs neu zusammengesetzt. Ab Leon (in 157km, also in ca. 8 Tagen) sieht man sein Umfeld und das Leben mit neuem Blick und es eröffnen sich neue Perspektiven. Nun, es gibt also Hoffnung 🤪.

Diese Hypothese entspricht im übrigen meiner Interpretation des Caminos, wo der Schmerz und das Leid notwendiges Übel sind, um die eigene Transformation voranzutreiben. Aus der reinen Komfortzone heraus ist nicht ausreichend Weiterentwickungsnotwendigkeit gegeben. Das ist aber nur meine aktuelle Einschätzung und ich bin gespannt, ob sich dieses Weltbild am Ende des Caminos ändert.

Ist also der Austausch mit anderen Pilgern – der für Hugo das Wesentliche ist – mit deren Erfahrungen und Perspektiven der zugehörige Katalysator der eigenen Transformation? Ich denke schon.

Albergue municipal

Der Tag beginnt zeitig! Die italienischen „Roadrunner“ vom Vortag verlassen gegen 6:00 Uhr die Herberge. Einer von beiden scheint sehr organisiert und hat seinen frühen Start akribisch geplant. Ein Griff zum Rucksack, ein weiterer für einen Beutel mit Utensilien und ein dritter für seinen Schlafsack, es folgen 5 Schritte durch die Dunkelheit und er ist weg. Vorbildlich leise – danke!

Sein Kollege kramt alles einzeln zusammen, raschelt mit seinen Tüten, verliert die Hälfte, läuft hoffnungslos verloren hin und her, stöhnt vor Überforderung, verlässt den Raum, kommt zurück und macht das Licht an, um zu schauen ob er bei seiner erstaunlichen Aktivität nichts vergessen hat. Ich habe den Tag folglich mit zwei sehr konträren und daher äußerst interessanten Erfahrungen gestartet und – da ich jetzt ohnehin wach bin – stehe ich auf und freue mich auf mein Frühstück.

Es gibt Baguette und bei Bedarf kann ich es toasten, was jedoch überflüssig ist. Das Baguette ist so trocken, dass die Wärme keinen zusätzlichen Knuspereffekt bewirken kann. Eine Portion zusätzliche Marmelade soll mich darüber hinweg trösten – alles gut. Während ich vor mich hinknuspere, kommt der Volentär und wirft das restliche Brot aus dem Brotsack in den Müll. Schade, ich war der letzte Nutznießer dieser harten Delikatesse – ob ich das persönlich nehmen soll? Natürlich nicht, ich nehme einen Schluck vom tiefschwarzen Kaffee und freue mich auf die Sonne – endlich Sonne!

Ich verlasse die Herberge gegen 7:45 Uhr und mache ein Foto von meinem heutigen, außergewöhnlichen Look – Luftkühlung und Regenprävention.

Heute Nachmittag soll es regnen und daher müssen die Hosenbeine dranbleiben damit kein Wasser in meine Schuhe eindringt – das gibt Wasserblasen.

Als ich meinen Fußmarsch starte, kommt eine niederländische Dame – Astrid – des Weges und ich komme mit ihr ins Gespräch. Wir starten gemeinsam, steigern uns gegenseitig in der Erwartungshaltung der vermeintlich schnelleren Geschwindigkeit des Anderen die Geschwindigkeit und irgendwann fällt es mir ein – ich wollte langsam machen. Bremse rein und wir laufen den Rest des Tages gemütlich. Zu Halbzeit des Weges frühstücken wir gemeinsam ein zweites Mal und führen interessante Gespräche über den Camino, unsere Kinder und unsere Lebensgeschichte.

Es waren inspirierende Gespräche, z.B. darüber, dass das wesentliche im Leben ist, dass man mit jenen Menschen die man liebt viel Zeit verbringt, sie unterstützt sich selbst zu finden und für sie da ist, wenn Bedarf besteht.

Die Sonne scheint und die 20,5km vergehen wie im Flug. Meinem Fuß geht es gut, aber er schwillt wieder erheblich an. Aber gut, das ist eben so und in meiner Herberge wartets Eis – auch wenn dieses nicht von Nöten sein soll.

Heute habe ich keine Herberge reserviert und wir wählen diejenige, mit der besten Bewertung. Sie hat geschlossen, aber im nächsten Haus gibt es Abhilfe. Es wird geduscht und dann gefroren bis sich die Balken biegen. Es ist so unbeschreiblich kalt in dem Gemäuer, dass alle Pilger dick bekleidet in ihren Schlafsäcken verschwinden. Dort wird zitternd ausgeharrt, bis es um 19:00 Uhr hoffentlich warme Speisen gibt.

Froststarre, der Kampf gegen den sicheren Tod in der Eiszeit unserer Herberge – die Heizung startet erst in zwei Stunden – um 18:00 Uhr – hofft man.

Immerhin bekommen wir mehr Decken – um 18:30 Uhr – und von der Heizung fehlt weiterhin jede Spur. Falls es morgen keinen Beitrag gibt, könnt ihr bitte die Bergrettung rufen. Das wäre nett!

Nach dem Abendessen hatte der Herbergsvater eine besondere Überraschung für uns. Zunächst durften wir die historische Weinpresse erproben und anschließend wurden wir mit Öllampen in den Keller entführt. Einem Weinkeller mit Steinen aus dem 14. Jahrhundert mit vielen verstaubten alten Schätzen. Bis zu 5km lange Gänge führten damals zu benachbarten Häusern und der Kathedrale. Im Keller gibt es Schutzräume für bis zu 20 Personen. Der Eingang zu diesen war verjüngt, so dass nur eine Person hindurchschreiten konnte. Eindringlinge überlebten diesen Versuch in der Regel nicht. Zum Schluss gab es eine kleine Weinverkostung – Ende gut, alles gut!

Eine kleine demographische Schleife zum Schuß: die spanische Dame welche uns gestern Abend in der staatlichen Herberge bekocht hat, erzählte, dass der Camino Francés primär von Italienern (im Sommer), gefolgt von Deutschen (verstärkt Mai und Oktober) und Koreanern (eher im Winter) besucht wird.

#Tag 18: Mittelfinger für falschen Ehrgeiz

Meine Wasserblasen heilen und jucken die ganze Nacht und ich schlafe trotz Einzelzimmer sehr unruhig. Ich stehe gegen 8:00 Uhr wie gerädert auf und merke, dass mein linkes Schienbein sich anders anfühlt. Das Bein ist kaum noch geschwollen, dafür fühlt es sich innen an, als wäre es nicht zugehörig. Wie ein hartes, unbewegliches Element innerhalb meines Körpers. Vermutlich spüre ich den Übeltäter persönlich – die einzelne entzündete Sehne an der Knochenhaut – das Luder!

Statt zu meinem Körper zu finden, entwickle ich mich quasi rückwärts. Meine Fußsohlen fühlen sich nicht zugehörig an, Schienbein ebenso. Wenn das so weitergeht werde ich mich von innen heraus zu einem neuen Menschen wandeln. Geht also auch so 🤣.

Ich möchte nicht länger ruhen und überlege welche Entfernung ich heute gehen kann. Wenn ich die ausscheidenden Pilgerfreunde treffen möchte, dann müsste ich heute 1,5 Tagestrecken gehen. Das wären 30,2 km – eigentlich machbar – aber nur eigentlich.

Falscher Ehrgeiz – Wunsch meiner Gedanken: 30,2 km.

Allerdings spricht das Höhenprofil dagegen – zu viel Anstrengung durch Steigungen und Abstiege. Das wäre Selbstzerstörung für meine Sehne und daher werde ich nur eine Wanderung von nur 9,6 km machen. Es ärgert mich, ich möchte gerne etwas weiter gehen, aber alle Herbergen im nachgelagerten Dorf (15 km) haben wegen Corona geschlossen.

Die Realität: ein Steinwurf entfernt: 10,2 km.

Ich wandere bei 4 Grad mit Winterjacke und kurzen Hosen los (dank Zip-off Hosen kein Problem). So lässt sich mein Schienbein neben dem Kühlgel mittels nachhaltiger Windenergie zusätzlich kühlen. Ob es hilft – ich weiß es nicht.

Natürliche Kühlung, läuft!

Ich laufe mit durchschnittlich 4,5 km/h – das ist für mich mit Rucksack recht gut. Allerdings werde ich laufend von anderen Pilgern überholt. Sie bleiben natürlich auch nicht überall stehen, entdecken nicht all die kleinen, schöne Dinge am Wegesrand und müssen auch nicht alle paar Meter Fotos machen. Ich frage mich, ob die zwei Italiener gerade auch das Reh gesehen haben? Trotz dieses Bewusstseins ist es für mich frustrierend immer langsam zu sein.

Ich frage mich, was ist normal – die Langsamkeit, die laufende Dokumentation, wie auch mein Blog hier – oder einfach nur den Weg für sich selbst zu gehen. Die „Roadrunner“ ziehen ihren Weg durch, dokumentieren ausschließlich mit ihrer Erinnerung und die ist vergänglich – auch teilen sie ihre Erfahrung nicht. Aber was ist die richtige Mischung? Ich weiß es nicht.

Als gefühlt „Getriebener“ ertappe ich mich immer wieder dabei, wie ich zurückblicke und schaue ob der nächste Pilger naht um mich zu überholen. Das treibt mich unnötig „schnell“ voran, denn ich habe bei den wenigen Kilometern wirklich keine Not. Ich sollte besser mein Schienbein schönen. Aber ich kann es nicht lassen, ich lasse mich – unnötig – von meinem Inneren treiben!

Meinem Ehrgeiz zum trotz mache ich erst mal eine Pause. Währenddessen kommt ein Mann aus Norwegen vorüber und frägt mich, ob alles gut bei mir sei. Ich sage „ja“ und erzähle von meinem kleinen Maleur am linken Schienbein. Auch er meint, dass es völlig normal sei, dass man eine Knochenhautentzündung auf dem Camino bekommt. Es sei ungefährlich, kann aber sehr Schmerzhaft werden und die Ursache liegt – wie Heidi schon sagte – darin, dass ich zu wenig trinke. Die Knochenhaut und das Schienbein trocknet dadurch aus, sagt er.

Ich trinke zur Zeit knapp zwei Liter und werde das Volumen nochmals steigen – 1 Liter auf 5 Kilometer sind mein neues Ziel (zum Glück Wasser und kein Benzin). Ich nehme also mein Ingwer-Wasser und eine Dose Monster und setze an – Prost!

Ob ich meinen falschen Ehrgeiz fürs Wandern auf dem Camino ablegen werde oder ob er Teil meiner Persönlichkeit bleibt? Wir werden sehen.

Ich schreibe der „Hospitalera“ Heidi einen Zwischenstand über mein Schienbein und dass ich ab morgen wieder Vollgas geben möchte. Sie meint: „Genieß den Weg, schau links und rechts und nimm Dir die Zeit, die Du brauchst! Ich glaube mit Vollgas bist du bisher im Leben unterwegs gewesen …!“. Damit hat sie völlig Recht. Sie rät mir daher „Nimm Dir die Zeit, die Du brauchst und sieh es als beste Investition in Dich selbst!“ und dann nennt sie mich vermeintliche Schnecke einen „Formel1-Pilger“ der gerade im „Safety-Car“ sitzt und meint „… du weißt, überholen führt zur Disqualifikation!“. Die Metapher ist so deutlich, wie ich es brauche – Danke!!

An der Herberge angekommen. „High Noon“ – ist auch zu früh!

Um 12:00 Uhr Mittags treffe ich an der städtischen Herberge in „Hornillos del Camino“ ein, ich will eintreten und muss erfahren, dass ich eine Stunde zu früh angekommen bin. Ich muss warten. Ein willkommener Mittelfinger an meinen Ehrgeiz – das musste so sein und ich schmunzle kräftig in mich hinein – und so „büße“ ich meinen falschen Ehrgeiz bei einem Kaffee mit Ingwer-Wasser in einer Bar ein.

13:03 Uhr starte ich einen neuen Versuch – dieses Mal mit Erfolg. Der freundliche Mann am Empfang erzählt mir seine Geschichte der Entschleunigung: er lebt im Sommer in Ibiza auf der Insel „Formentera“ und verkauft am Strand Ohrringe und Schmuck. Dort besitzt er ein kleines Haus. Im Winter ist auf der Insel alles geschlossen und daher reist er auf den Jakobsweg. Dort arbeitet er in öffentlichen Non-Profit-Herbergen als Voluntär, d.h. er arbeitet ohne Bezahlung und bekommt im Gegenzug Unterkunft und Proviant gestellt. Er geniest sein Leben jeden Tag, er putzt und macht Frühstück für die Pilger und wandert nach 16:00 Uhr vor sich hin. Seine Ausstrahlung lässt sich an Sympathie, Entspannung und erfülltem Leben kaum überbieten.

Nach diesem interessanten Gespräch gehe ich Duschen. Meine heutigen, beiden Zimmergenossen – die zwei Roadrunner aus Italien – liegen schon im Bett, schlafen tief und furzen – danke!

Aber gut, was macht das für einen Sinn, sie stehen früh auf, rennen die Strecke ab, um dann den halben Tag zu verschlafen. Hatte ich nicht letzt geschrieben, dass man seine Ressourcen weise einsetzen soll? Dieses Bildnis der Roadrunner rundet auf jeden Fall meine Erfahrung für heute ab – danke liebes Karma für diesen großartig langsamen Tag.

#Tag 17: Im Paradies

Meine Herberge „Albergue de Casa de Beli“ ist der absolute Hammer. Sie ist wunderschön eingerichtet und hat eine moderne Bar und ein Restaurant. Es gibt Menü von der Karte (über QR-Code abrufbar), dazu unbegrenzt Eis für meine Knochenhautirritation, schnelles WLAN und sie hat kaum Besucher, da sie direkt nach „Burgos“ strategisch ungelegen liegt.

Schlafraum der Herberge „Albergue de Casa de Beli“ – er soll heute mein Einzelzimmer bleiben. Luxus pur!

Entsprechend ist das Herbergszimmer für 10 Euro/Tag quasi ein Einzelzimmer und das Pilgermenü gibt es für 11 Euro, nur ein Stockwerk tiefer. Ein Frühstück mit leckerem Kaffee, frisch gepressten Orangensaft und einem Croissant kann sich für 4,50 Euro sehen lassen.

Ich habe die Nacht neben einem sehr netten älteren Spanier (ca. 70 Jahre) verbracht, der den Camino mit dem Mountainbike befährt. Wir verständigen uns über Google-Translate mit Vorlesefunktion. Seine Tochter – so erzählt er mir stolz – studiert in Deutschland seit zwei Jahren und ich schicke ihr, seinem Wunsch entsprechend, eine deutsche Sprachnachricht und er ist überglücklich. Als er unser Zimmer verlässt, schenkt er mir gesalzene Mandeln – sie verleihen Bärenkräfte sagt er.

Das ist gut, denn wer weiß ob ich neben riesigen Hirschen – die Kühe sind – auch auf Bären, als weiße Brieftauben verkleidet, treffe? Dabei fällt mir wieder ein, dass ich hier noch kein Wild gesehen habe. Wovon sollten sich da – die hier angeblich lebenden Wölfe – ernähren? Sie werden wohl kaum zum Abendessen in den Dönerladen im Dorf einkehren oder doch?

Egal – zurück zur Realität. Nach dem Frühstück komme ich in das Gespräch mit einer circa 75-jährigen älteren Dame die bereits 700 km durch Frankreich gewandert ist. Sie ist seit November unterwegs und lässt den Camino dieses Mal sehr langsam angehen – sie ist Glücklich. Es ist ihr zweiter Camino Francés, erzählt sie mir. Sie hat den ersten Camino mit sehr viel Schmerz und Schmerzmittel durchlaufen und hat dabei gelernt, auf den Schmerz zu hören. Deswegen hat sie gänzlich auf Schmerzmittel verzichtet und rät mir langsam zu machen, da man so insgesamt schneller ist. Je mehr die Stellen gereizt sind, um so länger dauert der Heilungsprozess.

Was sie sagt, ist nichts unbekanntes, aber die Intensität ihrer Aussage zu diesem Zeitpunkt hat ein anderes Gewicht. Ich erkenne meine Gedanken vor dem Frühstück wieder und nun stehe ich hier, schreibe meine Notizen in diesen Blog. Der Rucksack ist gepackt und die Schuhe sind geschnürt – nur der Schlafsack wartet noch darauf gerollt zu werden.

Ich überlege, 469km (Sillian ist schon 100km weiter) vom Ziel entfernt, hin und her. Ich entscheide – der Schlafsack darf weiter ruhn! Hier im Pilgerparadies werde ich einen Tag verweilen und die Knochenhautentzündung darf weiterziehen.

Die ältere Dame erzählte mir bei unserem Gespräch davon, dass sie sich öfters verlaufen hat. Darauf hin zeigte ich ihr die „Camino Ninja APP“ mit deren Hilfe sie nicht nur die Tagesplanung ihrer Wanderrouten (inklusive der Verfügbarkeit der Herbergen) durchführen, sondern auch jederzeit sehen kann, ob sie sich auf dem Camino befindet. Sie freut sich und installiert die App.

Es ist schon erstaunlich, da treffen sich zwei Menschen im Vorübergehen, tauschen für nicht mal 5 Minuten ihre Erfahrungen aus und beeinflussen ihre Zukunft gegenseitig wesentlich. Gracias y Buen Camino!

Bar/ Restaurant der Herberge „Albergue de Casa de Beli

Ich denke nach über das was Hugo gestern sagte. Er meinte in Spanien sind 80-90 % der Menschen sehr freundlich und hilfsbereit, in den großen Städten ist es umgekehrt. Warum verlieren viele Menschen untereinander den Respekt oder die Würde? Ist das überhaupt die richtige Frage? Warum nimmt die Distanz zu oder Hilfsbereitschaft untereinander mit der Zahl der Lebewesen ab? Hat es etwas mit reduziertem Verantwortungsbewusstsein zu tun, da man in der Masse meint es würde sich schon wer anders kümmern? Es hat sicherlich etwas mit Anonymität zuntun – dem Fehlen der Zuordnung einer Person zu einer von ihr ausgeübten Handlung. Wie auch immer, es ist schade!

Adiós y muchas conversaciones emocionantes la próxima vez!

Am Nachmittag bekomme ich die für mich traurige Nachricht, dass zwei aus der neuen Grupe den Camino abgebrochen haben. Sie sind 1,5 Tagesmärsche entfernt und haben aufgrund ihrer Wasserblasen und des nahenden Regens – für dieses Mal – die Freude an der Teilstrecke ihres Caminos verloren. Ich bin mir sicher, dass sie es mit Leichtigkeit nehmen. Es ist für sie keine Schande, kein Versagen sondern einfach eine weitere Chance für einen weiteren Marsch. Ich hoffe sehr auf ein Wiedersehen, auf dem Camino (sie verweilen 2 Tage) oder in Barcelona.

Ich selbst bin auch noch nicht über den Berg. Das Bein ist am Abend noch immer etwas geschwollen, hart und heiß, aber wesentlich weniger als nach einem Tagesmarsch. Die Pause hat gut getan ❤️‍🩹 – ob es ausreicht werde ich sehen …

#Tag 16: eine Frage der Perspektive

Ich telefoniere mit Heidi (die erfahrene Pilgerin und gute Seele aus dem Internet) und Frage um deren Rat wegen meiner Knochenhautentzündung. Sie meint, es sei völlig normal, dass man auf dem Weg eine Knochenhautentzündung bekommt. Ich soll so viel wie möglich trinken, getrockneten Ingwer kauen und eine Anikasalbe auftragen. Ebenso den Fuß mit einem „Gel Fria“ kühlen und das Gewicht meines Rucksacks um 1-2 kg reduzieren – „Balast abwerfen – auch Menthal“ sagt sie.

Gesagt, getan – zumindest physisch wird nach dem Aufwachen aussortiert: Blasenpflaster, unnötiger Vorrat an Bandagen, Thermounterwäsche, Handschuhe, ein paar Mitbringsel und ein paar Erdnüsse treten den Heimweg an. Dabei ist auch – schweren Herzens die Thermosflasche, welche ich von Sany – meiner Freundin – extra für meinen Camino bekommen habe. Sie wiegt leer 630 Gramm und daher muss das mir werte Andenken zugunsten meiner Gesundheit weichen.

„Zur Schonung meiner Gelenke, soll ich den Rucksack umpacken“ sagt sie. Ich hatte bislang gelernt, dass die schwereren Utensilien nach unten gepackt werden. Jetzt sollen die schwereren Dinge an den Rücken in Nähe der Schulterblätter möglichst Körpernah gepackt werden. Die Perspektive verschiebt sich von „oben und unten“ hin zu „Körpernah und Körperfern“. Ich will es probieren und stelle fest, dass nach der Gewichtskorrektur nicht mehr viel schweres übrig ist – das ist auch gut so. Das Schwerste sind die Medikamente aufgrund der vielen Errungenschaften wie Salben und Tinkturen für meine Blessuren.

Nach dem inzwischen üblichen Besuch der Apotheke ging es gestern Abend mit Alexandra und Hugo zum Abendessen in ein typisch spanisches Restaurant.

Wieder vereint – unsere Wandergruppe, die den Tag als Freiheit liebt und abendlichen Austausch sucht.

Ich habe im Restaurant eine regionale Spezialität genossen – eine außergewöhnliche Mixtur von Blutwurst, künstlichem Glasaal, Ei, Speck, Kartoffeln und Knusperbrot. Dazu gab es ein Maß Bier aus einem Wasserkrug.

Sehr empfehlenswert die Spanische „morcilla“

Während unserem Beisammensein führten wir sehr intensive Gespräche über den Camino – mit Google-Taranslate. Ich stellte die Hypothese in den Raum, dass der Weg von Alexandra und Hugo nicht zu einer außerordentlich, intensiven, persönlichen Erfahrung führen kann, da die Intensität der Probleme geringer ist (man schont sich mehr) und die Dauer der Probleme womöglich zu kurz ist und so womöglich weniger Grenzerfahrung den persönlichen Wandel treibt.

Hugo meint, ich würde den Camino völlig falsch verstehen. Ich sehe ihn rein physisch, man müsse nach meiner Interpretation über das Leid des Weges seine Persönlichkeit verändern. Er meint, es geht nur um die Erfahrung, die Inspiration über andere Perspektiven mit gleichgesinnten Pilgern. Er hat keine Erwartung an den Weg, außer interessante Menschen zu treffen und darüber den eigenen Horizont zu erweitern.

Alexandra sieht es ähnlich, „da die Menschen auf dem Camino eine ähnliche Weltoffenheit haben, können die Menschen das eigene Leben bereichern“ sagt sie. Sie möchte von den unterschiedlichen Perspektiven lernen, den eigenen Horizont erweitern und durch den Austausch wachsen. „Auf dem Camino wird niemand verurteilt, alles ist realer und intensiver, das Genießen, das Leiden, das Leben.“

Interessant, wie unterschiedlich der gleiche Weg erlebt werden kann. Und ja, es geht nicht darum, das eigene Kreuz zu Grabe zu tragen, sondern darum zu wachsen. Ich werde viel darüber nachdenken und meine Perspektive hinterfragen oder zumindest anreichern. Wahnsinn! Was für ein tolles Gespräch – danke 🙏🏻.

Eine kurze Pause vor einer kleinen Kirche am Wegesrand. Es gibt Wasser mit Ingwer und eine dicke Portion Creme für mein Schienbein.

Ich verlasse meine Unterkunft heute erst gegen 12:00 Uhr. Zunächst reichlich Wasser und Ingwer einkaufen. Dazu noch ein paar Mandeln für zu Hause und dann ab zur Post.

Vorab schneide ich den Ingwer mit meinem riesigen Messer auf einem Fenstersims einer Bank. Ich gebe ihn in meine Flaschen und denke dabei an die Serie „Haus des Geldes“ – ob sie schon Verstärkung rufen?

Heute ist mein „Jetzt-werde-zu-zuhause-Tag“ – der Tag an dem physischer Ballast abgeladen wird. Den Rucksack mit dem manthalen Ballast will ich noch finden, um ihn zu leeren.

Meine Rücksendung bringt stolze 2,475 kg auf die Waage und die Post möchte sich mit meiner Paketsendung vergolden. Stolze 41 Euro soll ich für ein kleines Päckchen berappen und so nehme ich das Angebot von Heidi gerne an und schicke es zu ihr nach Spanien (letzte Etappe vor „Santiago di Compostela“) – für „nur“ 19,25 Euro.

Interessant ist die Selbstverständlichkeit dieser Paketsendung – kein einziger Gedanke wurde daran verschwendet, dass ich dort vielleicht niemals ankommen würde. Natürlich nicht! „Ein Urban lässt sich nicht aufhalten“ hat letzt ein guter Freund gesagt und auch der Mexikaner Luis meinte gestern beim Abendessen, dass er sicher sei, dass ich meinen Camino in „Santiago di Compostela“ beenden werde. Schauen wir mal – aber ich tippe auch auf „ja“.

So zurück zur Post – bis ich das Paket verschickt habe dauert es eine Stunde. Die Dame schreibt den Aufkleber, druckt aus, klebt zu, … kein Wunder das es so teuer ist. Denn sie hat freundlicher Weise die ganze Arbeit übernommen. Danke!

Nun geht es endlich Nassgeschwitzt aus der Post – in den Regen – zu meinem Schongang. Ich trage eine Süßigkeit die ich meinen Lieben zu Hause als Überaschung ins Paket packen wollte mit mir herum, da sie nicht mehr ins Paket passte. Was mache ich damit? Ein paar Meter weiter sitzt eine Bettlerin an der kunstvoll verzierten Brücke – ich schenke sie ihr und sie strahlt überglücklich.

Heute geht es aus der wunderschönen Stadt „Burgos“ nur einen kleinen Spaziergang von 11 km weit nach Tardajos“ – eine halbe, gewöhnliche Tagestour. Die Strecke ist totlangweilig, geht wieder an Straßen entlang und macht einfach keinen Spaß.

Selbst die Pause, bei der ich mir eine fettige Pizza gönne macht keinen Spaß. Und der Weg zieht sich endlos.

In der wunderschönen Herberge „Albergue de Casa de Beli“ angekommen, wird ausgiebig geduscht, Wäsche gewaschen und der Fuß den Rest des Abends mit Eiswürfeln gekühlt. Die Schwellungen werden quasi weggefohren ❄️ – so der Plan. Und dann wird nachgedacht … Buen Camino!

Tag 15: Zwangspause mit Karma

Ich habe von meinen spanischen Wandergenossen viel über Spanien erfahren, gelernt wo welche Speisen am Besten sind und welche Region wie tickt. So muss man z.B. in Galicien Oktopus (wird dort kurz gekocht) und Rindfleisch (die Kühe ernähren sich ausschließlich von Mais) essen um in unbekannte Genüsse vorzustoßen.

Rechts oben in Frankreich gestartet und auf dem Weg nach Compostela. Es ist noch ein gutes Stück vor mir. Aber es wird weniger

Da mein Rucksack nicht perfekt sitzt hat mir Hugo – der spanische Gebirgsjäger unserer Gruppe – heute Morgen geholfen ihn so zu optimieren, dass er mit meinem Körper zu einer Einheit verschmilzt. Der Hüftgurt muss oberhalb der Hüfte sitzen (Bauchnabelhöhe), an den Schultern wird er zum Oberkörper gezogen. Er sitzt dann ideal, wenn nichts mehr wackelt und das Gewicht auf der Hüfte lastet. Hin und wieder öffnet man den Hüftgurt und trägt das Gewicht auf den Schultern. Es ist nicht viel anders, aber es macht den entscheidenden Unterschied.

Hugo ist durchtrainiert und erzählt mir, dass ein Scheitern des Caminos nicht schlimm sei. Er selbst läuft ihn – bzw. nur ein kleines Teilstück – mit seiner Freundin zum dritten Mal und war zweimal gescheitert. Er treibt mir damit die Ehrfurcht ins Gesicht: wenn er es ein junger, kerngesunder Gebirgsjäger nicht schafft, wie soll ich es meistern? Ich – ein Bürotieger – der vor dieser Reise noch nie ausreichend auf seinen Körper geachtet hat. Ich beschließe es, den „Camino Francés“ einfach zu schaffen und hake den Gedanken für mich ab.

Ich wandere weiter durch wunderschöne Wälder und plötzlich schallt unmittelbar neben mir in voller Lautstärker der Ruf eines mächtigen Hirsches. Ich versuche den Hirsch im Wald ausfindig zu machen, aber es gelingt mir nicht – es ist eine Kuh 🐄.

Was ist es eigentlich, was das Mindset blockiert? Vier Dinge: 

Erstens: Herausforderungen sind nicht vorhersehbar (die unerwartete Herausforderung liegt vor oder nach der erwarteten und trifft einen immer unerwartet - und hart). Der Weg ist nicht planbar.

Zweitens: verteile deine Ressourcen weise, überambitionierte Ziele bringen keinen Fortschritt. Mache viele Pausen (alle 5km 10 Minuten, Rucksack runter, Schuhe aus - achte auf deinen Körper).

Drittens: reduziere deinen Ballast auf ein Minimum.

Viertens: der Weg ist das Ziel - schaue links und rechts am Wegesrand, lass dir Zeit denn eile bringt dich nicht weiter und du verpasst einen wesentlichen Sinn des Weges.

Ich wandere und mache viele Pausen und der kleine Berg am Anfang de Tages lässt sich einfach überwinden. Ich marschiere voller Elan und wandere einem Dorf entgegen dessen Namen ich auf der Routenplanung gesehen habe. Es geht lange und sehr steil bergab und am Fuße des Berges rappelt meine Uhr pausenlos. Ich sehe nach was der Grund dafür sein könnte und siehe da – ich habe mich verlaufen und darf einen großen Teil des Berges erneut erklimmen. Ich wähle die Abkürzung mitten durchs Feld und mache – auf dem Camino zurück – erst mal eine Pause.

Also Rucksack runter, Schuhe aus und Mandeln rein in den Mund. Als ich die Schuhe wieder anziehen will, bemerke ich wie Stark mein Schienbein geschwollen ist und die Berührung mit dem Finger schmerzt. Ich mache mir Sorgen was das wohl sein könne … aber es bringt nichts, ich will weiter.

Ich achte auf den Schmerz und habe ein ungutes Gefühl. Daher recherchiere ich mit dem Handy im Internet (das ist natürlich ein Fehler). Auf der Suche mit meinen Symptomen und finde eine Knochenhautentzüng. Sie resultiert aus einer starken Reizung der Knochenhaut aufgrund der sportlichen Überbelastung. Sie ist Schmerzhaft, das Bein ist geschwollen, hart, heiß und bedarf einer Wanderpause von 7-14 Tagen und muss unbedingt vollständig verheilen, bevor es weitergeht. Das darf doch nicht wahr sein! Aber wir wissen ja, das Internet ist kein Arzt und das muss sich erst bestätigen.

„Don’t“ or „do“ – das ist hier die Frage! Kommt die nächste Auszeit – mit 7 Tagen wegen einer Knochenhautentzündung (Shin Splint) – oder kann es morgen doch weitergehen?

Ich hatte beschlossen, auf meinen Körper zu achten und die rote, heiße und harte Stelle am Schienbein ist ein klares Zeichen. Daher laufe bis zum nächsten Dorf – ab da geht es die restlichen 8 km ohnehin nur über asphaltierte Wege – neben der Autobahn.

Ich suche nach einem Taxi – per Aufkleber am Laternenmast – im Internet aber die nächsten sind 13 km entfernt – das wird teuer. Bus? Fehlanzeige!

Was nun? Genau bei diesem Gedanken kommt ein weißes Auto um die Kurve. Ich handle spontan: Daumen hoch, Hand rechts raus und zack, die Dame bremst, spricht sogar englisch, fährt nach „Burgos“ und nimmt mich völlig selbstverständlich mit, bis vor ihr Haus.

Sie lässt mich dort an der Bushaltestelle raus und sagt mir, dass der nächste Bus in 5 Min. kommt. Auf dem Weg zum Hotel sehe ich die zwei Koreanerinnen aus dem Bus am Straßenrand laufen. Auf Wiedersehen!

Weitere 10 Minuten später, stehe ich um 1,20 Euro vom Busticket erleichtert, vor der Kathedrale in Burgos. Ich brauche eine Apotheke für eine erste Einschätzung und die hoffentlich erste, schnelle Hilfe bei meinem neuen Problem. Aber es ist Sonntag und die Apotheken haben geschlossen. In einer Nebenstraße sehe ich eine schöne Kirche und beschließe davon ein Foto zu machen.

Direkt neben an – eine Apotheke – geöffnet! Ich beschreibe der Apothekerin mein Problem und sie sagt, ich müsste nur Voltaren und Ibuprofen nehmen und könnte weiter wandern. Was will man mehr? Ich bin als letzter los und als erster angekommen. Ich laufe weiter zur Kathedrale und siehe da, ein Getränkeladen mit Monster-Dosen – soweit das Auge reicht.

So viel Karma, das ist schon fast unheimlich. Nun ab ins Hotel „Urban Burgos“ das Bein kühlen und schonen. Im Hotel angekommen treffe ich Alexandra und Hugo, sie beglückwünschen mich dafür, dass ich meine Tageswanderung „weise“ abgebrochen habe. Hugo hatte das gleiche Problem in seiner beruflichen Laufbahn. Er meint ich muss auf jeden Fall pausieren.

Nun – am Ende entscheidet mein Körper selbst. Ich werde morgen (leider) pausieren und dann weitersehen. Buen Camino!

#Tag 14: Tunnelblick

Heute schaffe ich es wieder die Herberge als letzter zu verlassen. Das bedeutet den ganzen Tag alleine zu laufen, ich werde nicht überholt und bin auf mich gestellt. Das bedeutet wertvolle Zeit für Gedanken z.B. zu den Gesprächen gestern Nacht. Aber zunächst mein Gesundheitscheck:

Nach 14 Tagen, so sagt man, hat sich der Körper an die neue Normal gewöhnt. Dann hat der Körper wohl verstanden, dass sein Tag durch Fußmarsch ausgelastet wird und der Schreibtisch der Vergangenheit gehört.

Was sagt mein Körper dazu? Sagen wir mal so – meine Füße haben es toleriert. Sie sind wirklich platt gelaufen (also wirklich platt) und bilden eine tellergerade Fläche – ehemals Ballen – die Fußsohlen sind steinhart. Fremd und befremdlich fühlen sie sich an, wie ein zweites paar Schuhe. Vielleicht sollte ich bald einen Hufschmied aufsuchen?

Seit gestern habe ich Probleme mit den Sehnen am Schienbein. Vermutlich werden die Sehnen durch die Schwellungen am Knöchel beeinträchtigt und diese wiederum durch meine Damenstrümpfe aus Nylon motiviert. Letztere schnüren das Schienbein ab und sollen nun der Vergangenheit angehören – mein Ausgleich: eine extra Portion Hirschtalg.

Fühlen wir weiter nach oben: Mein Rücken ist in Ordnung und lehnt sich nur noch minimal gegen mein Gepäck auf und beruhigt sich stets nach einer kurzen Pause. Das Wandern entwickelt sich demnach auch bei mir zur Gewohnheit weiter? Nö! Eben nicht, wie ich am Nachmittag feststellen sollte.

Neu ist, dass ich offensichtlich ein Gespür für Entfernungen entwickle. Nicht selten schätze ich sogar die erste Nachkommastelle korrekt und ich vermute, dass der Camino mit mir verschmilzt? Ebenfalls nein! Die Genauigkeit meiner Schätzung sinkt mit dem Wunsch anzukommen, ab Mittag denke ich nur noch daran anzukommen und überschätze jeden Schritt zu meinen Ungunsten. Das fühlt sich nach Stillstand an und das drückt auf die Motivation.

Auf der Kirche unmittelbar vor der Herberge nisten drei paar Störche.

Wir haben uns gestern Nacht über das Leben ausgetauscht, z.B. einem vermeintlichen Zwang von (introvertierten) Menschen die viele Jahre ihres Lebens damit verschwenden und versuchen der (anderen) Norm (?) zu entsprechen. Sie versagen sich ihr Selbst und betäuben ihre Sinne, um eine Anerkennung zu erlangen, als die die sie durch deren Persönlichkeit inne haben. Warum akzeptiert man nicht einfach sein inneres Ich und lässt sich die Chance auf ein Leben mit gleichgesinnten bzw. Menschen die sie ergänzen sind?

Ein(e) Gesprächspartner(in) beschreibt, dass immer wieder die gleichen Menschen angezogen werden, dass man am immer wieder auf die gleichen Probleme stößt. Die Ursache liegt m.E. in der eigenen Persönlichkeit. Die Persönlichkeit weckt das Interesse passender oder ergänzender Charaktere. Solange man sich selbst nicht Wandelt, wird sich wohl auch das beschriebene Dilemma nicht lösen.

Alexandra & Hugo (Spanien), Rafael (Spanien) und Luis (Mexiko)

So wandere ich heute in meinen Gedanken versunken vor mich hin, durchlaufe schöne Ortschaften und mache Rast in einem sehr schönen Restaurant. Direkt am Anfang des heutigen Aufstiegs. Dort treffe ich die beiden Koranerinnen wieder, alle anderen sind schon aus der Lokalität aufgebrochen. Später kommt der 75 jährige Spanier dazu und wir unterhalten uns ein letzte Mal vor seiner Abreise.

So findet die Neue Welt meiner Camino-Wanderfreunde wieder zusammen. Ich gönne mir eine kleine Portion Pasta zu Mittag und wärme mich vor dem Kamin. Meine Füße und meine Seele atmen auf und so breche ich nach einer Stunde auf, die anstehende Steigung in der Wildnis zu erklimmen.

Eine Rast vor dem warmen Ofen. Das ist der wahre Luxus.

Nach einer (zu!) langen Pause geht es los zur letzten, herausfordernden Steigung. Die Knapp 320 Höhenmeter in kurzer Distanz sind nicht das Problem, sondern die nachgelagerten 16 km. Ihr kennt es schon – an dieser Stelle kommt wieder der Kaugummi – der sich so lange zieht wie jeder einzelne Schritt.

Ich erlebe es erneut, das mentale Loch: es fordert mich heraus, ich bin am Ende, die Füße schmerzen und mein Blick fokussiert sich erneut und blendet alles Unwesentliche aus. Da ist er wieder der Tunnelblick! Der Moment wenn der Körper am Ende ist und alle lebensunwichtigen Sinnesreize ausblendet um Energie zu sparen. Das unmissverständliche Signal für eine Pause – Zeit für mein Schatzbuch.

Ich lese mein Schatzbuch von meiner lieben Noemi. Mitten im Wald freue mich über ihre Gedanken über unseren Abschied, zu meiner Reise und unser Wiedersehen. Danke liebe Noemi – ich bin Stolz auf dich und unsere Familie und das gibt mir erneut Kraft. Ich wandere weiter bis zur Herberge.

Nun bin ich müde, geh zur Ruh und mache meine Äuglein zu. Buen Camino!

#Tag 13: walk the line

Das übliche Morgenritual – ich verarzte die Füße und sichere die Pflaster mit Omnifix, schmiere den Rest dick mit Hirschtalg ein, ziehe den pseudo Coronaschutzbezug aus Papier von der Plastikmatratze und Kopfkissen ab, packe meinen Rucksack, dann gehts zum Wasser nachfüllen und auf die Plätze, fertig, los.

Heute bin ich der Vorletzte, der die Herberge verlässt – ich werde besser ;-).

Neben meinem recht entspannten Wanderweg nisten viele Storche. Die meisten sind mit Nestbau beschäftigt und dabei belegen sie tatsächlich alles, was ausreichend Fläche bietet. Felsen, Nistmasten oder Schornsteine. Bei letzteren bleibt der Nachwuchs wenigstens schön warm, sofern das Ei nicht vorab durchgekocht wurde.

Storch beim Nestbau ♥️

Ich starte auf jeden Fall glücklich und zu frieden in den Tag und lasse es gemütlich angehen. Ich bin früh los und brauche 5-6 Stunden. Die ca. 250 Höhenmeter verteilen sich auf den ganzen Weg und der geht schnurgerade – eine Linie und fast die gesamte Reise direkt neben der Autobahn.

Es ist schon fast frustrierend, dass das Navi auf dieser geraden Strecke kaum benötigt wird. Aber eben nur fast, denn auch hier in Spanien gibt es listige Geschäftsleute oder Kinder mit dem Schalk im Nacken, die die Pilger mit gelben Pfeilen vom Weg zu ihrem Ladengeschäft oder abseits locken und dann der guten Hoffnung sind, dass sich die verirrten Wanderer über den Umweg freuen.

Das Frühstück gibt es auf einer Bank und ich esse das Brot welches ich seit Logroño mit mir herumtrage. Dazu einen heißen Tee aus der Herberge von vorgestern – ok, das macht keinen Sinn. Und zur Krönung gibt es noch ein paar gesalzene Mandeln obendrauf – was will man mehr?

Sobald etwas zwickt wird heute Pausiert und der Körper nimmt die Entlastung dankend an. Und genau so geht es für heute Schmerzfrei weiter.

Ich mache Mittagspause in einem Imbiss, deren Inhaberin kostenloses Frühstück nach Wahl, frisch zubereitet für Pilger anbietet und sich ausschließlich über Spenden finanziert. Jeder gibt was er kann und was er mag. Dort gibt es auch eine Kiste, wo Pilger Utensilien hinterlassen können, die sie nicht mehr benötigen. Andere Pilger können diese bei Bedarf kostenlos mitnehmen. Wie bemerkenswert das selbstlose Leben der Dame.

Am Abend erfahre ich von Pilgerfreunden, das während deren Anwesenheit sich ein, unter dem Deckmantel „religiöser Pilger“ – tatsächlich jedoch ein übler Schnorrer – fürstlich bedienen ließ und wutentbrannt von dannen stapfte – ohne Dankeschön oder Spende – als er erfuhr, dass die Übernachtung für ihn nicht kostenlos sei. Wie schamlos manche Menschen sind und sich nicht mal an einfache faire Regeln halten!

Nach meiner Stärkung und meiner Spende für die Dame habe ich ein Gespräch mit einem Haeadhunter für einen großen französischen Pharmakonzern. Es läuten die Alarmglocken als Wörter fallen wie: „wollen moderner sein, …“ oder „möchten sich Zeitgemäß aufstellen“ … die signalisieren, dass sie sich nur ein wenig anpassen wollen und nicht verstanden haben, dass die moderne Arbeitswelt sie überholen und überflüssig machen wird. Sie wollen sich waschen, ohne sich nass zu machen. Das habe ich schon einmal erlebt. Ich beschließe weiterzumachen, der Geschäftsführerin auf den Zahn zu fühlen um zu sehen, ob ich ihr die Potentiale für sie und ihr Unternehmen verständlich machen kann.

Ich denke lange darüber nach, es ist soviel mehr möglich: Commerce als Keimzelle zur Transformation zum agilen Organismus, um daraus digitale Geschäftsmodelle der Zukunft zu Entwickeln. Zeitgemäße Marktführer besitzen keine Produkte mehr, sie vermitteln Mehrwerte und Services für den Konsumenten, sie betreiben Plattformbusiness. Sie disruptieren ihre Branche indem sie die Lieferketten neu denken und alte Machtverhältnisse kippen.

Und die Pharmabranche ist genau so ein Beispiel, ebenso die Welt der Juristen oder die Finanzwelt von morgen. Versteht ihr was ich meine? Hier ein paar Beispiele.

Genau das ist es, was ich mit SOLSUC bezwecke – das ist es was ich mit meiner Selbständigkeit bewirken will. Das Gespräch zeigt mir das Potential, dass man erschließen kann, wenn sich kapitalstarke Marktführer selbst bedingungslos disruptieren und nicht darauf warten, bis es andere tun – ich brenne vor Motivation!

Nun aber zurück zu meinem Weg. Heute geht es durch einige Dörfer die zum großen Teil verlassen sind. Diese alten Schönheiten sind eine Schande, dass sie nun ihrem Verfall entgegen sehen. So viele Details, alte Fenster und massive Eingangstüren – sind sie nicht wunderschön?

Ich laufe weiter entlang der Autobahn (die vermutlich unangenehmste Teilstrecke des Jakobsweges) und bemerke, wie der Wegrand von vielen kleinen Schönheiten gesäumt wird.

„Michaelashaar“ – der Name entstand vor vielen Jahren, da sich die Distel so ähnlich anfühlt wie mein 3mm geschorenes Haupthaar.

Ich setze meinen Weg fort und betrachte meinen Fortschritt – viele kleine Schritte haben dazu geführt, dass ich in den kommenden Tage bereits ⅓ der Gesamtstrecke hinter mir gelassen haben werde.

Den Abend verbringe ich mit der gestrigen Geburtstagstruppe. Der Mexikaner und ich treffen das Pärchen im Restaurant und es gibt einen schmackhaften Tagesabschluss für 13,- Euro.

Sooooooooo lecker 🤤

#Tag 12: das mentale Ding und die Apokalypse

Ich habe bis 11:00 Uhr einen wichtigen beruflichen Termin und habe mir deswegen gestern ein günstiges Einzelzimmer gegönnt.

Luxus pur! Ein Zimmer mit eigenem Bett und Bad ♥️

Ich stehe zeitig auf, verpacke meine Utensilien und die inzwischen getrocknete Wäsche in den Rucksack und bereite parallel meinen beruflichen Termin vor. Startklar & marschbereit mit geschnürten Wanderschuhen, vollständig getaped und dem ungebändigten Tatendrang zu Laufen sitze ich beim Gespräch im Badezimmer zwischen Dusche und Toilette. Warum? Ist doch klar, denn nur hier gibt es ungestören Empfang.

Nachgelagert geht es zum wohlverdienten Frühstück in der Herberge und es gibt leckeren Kaffee, Brötchen und Croissant.

Wohl gestärkt geht es weiter zum „Servico Riojano de Salud“ da ich jegliche Entzündung und damit den vermeintlichen Totalausfall durch eine Blutvergiftung präventiv ausschließen möchte. Dort angekommen muss ich eine Stunde warten und mir läuft die Zeit für meinen Weg davon. Ich will heute – trotz Regen – die Standardpilgerroute dieser „Etappe“ hinter mich bringen.

Am Empfang spricht man spanisch, aber man versteht mich mit Händen und Füßen und ich bekomme eine Zimmernummer mit Uhrzeit zugewiesen. Damit sie mir nicht versehentlich den Fuß amputieren, übersetze ich schon mal meine Geschichte auf spanisch, da ich schnellstmöglich zurück auf den Weg möchte.

Ergebnis: alle Maßnahmen von meinen virtuellen Freund:innen waren perfekt – alles Bestens! Keine Bandagen mehr, nur noch die einstige Wasserblase hat noch einen Rest an Schwabbel behalten. Der Rest meiner immer noch namenlosen Freunden ist vorbildlich gedörrt. Entsprechend geht es weiter, die nächsten Medikamente (Mercromina ein antiseptisches Mittel das die Blasen sehr schnell austrocknet) in der Apotheke kaufen, damit ich bald als portabler Pharmastand aus dem Rucksack Medikamente in Einzeldosen an vorbeiziehende Pilger verkaufen kann.

Um 13:40 Uhr geht es endlich los und erst mal an auf dem Felsen nistenden Klapperstörchen vorbei. Ich starte zu der Zeit, wo ich üblicher Weise in meiner Herberge ankommen würde. Und ja, ich möchte immer noch unbedingt ca. 22,5 km nach „Santo Domingo de la Calzada“ wandern, um dort in die Gemeindeherberge mit über 250 Betten zu übernachten.

Klapperstörche nisten auf der Spitze des Felsen und geben mir den Takt vor

Ich laufe mit maximaler Geschwindigkeit und halte das Niveau – zumindest die ersten sechs Kilometer. Dann ist Zeit für eine kurze Pause auf der wohl einzig trockenen Bank im Dorf. Anschließend geht es – sagen wir mal bedingt motiviert – bei Regen weiter in die Weinberge.

Gestern noch habe ich mich über lehmigen Boden gefreut, da er die Füße schont. Heute habe ich genug davon, danke! Er klebt nass, gefühlte Meter hoch unter meinen Füßen – und so hat mir Mutter Natur quasi die biologisch abbaubaren Highheels zu meinen Nylonsocken verpasst.

Nicht sonderlich schön, aber – sagen wir mal – wenigstens besonders herausfordernd. So eile ich mit schwerem Schlamm unter meinen Füßen mit Gegenwind und Regen der Erschöpfung entgegen. Ein schier endloser Weg gegen den Wind. Alle Meter schaue ich ernüchtert auf mein Navi und erlebe den Fortschritt – nur eben in Zeitlupe.

Noch ein wenig traumatisiert vom ersten Tag, laufe ich mit großem Respekt einer Steigung von weniger als 260 Höhenmeter am Ende meines Weges entgegen. Der Weg zieht sich wieder wie Kaugummi – nur mit gefühlt maximaler Geschwindigkeit – da mir die Steigung kurz vor dem Ende wie Blei im Nacken sitzt. Wieder eine mentale Blockade – doch es geht höher, höher, höher und höher. Ich denke ehrfürchtig: wie schlimm vermag nur die letzte große Steigung sein? Es sind immer noch 6 km bis zum Ziel.

Ich bin am Ende, kann und mag nicht mehr und plötzlich kommt ein Aussichtsplatz, der mich mit dem einzig trockenem Platz im Windschatten eines Baumes zur Rast einlädt. Ich trinke etwas und spüre wie die Kälte in mich zieht.

Ich mache rast und will mir im nächsten Dorf ein Taxi nehmen – die Steigung zum Finale setzte ich dieses Mal aus – und der Gedanke der Vernunft gibt mir Kraft. Mit dieser Motivation sehe ich mir die geleisteten Höhe meiner bisherigen Wanderung an und mein Herz beginnt wieder zu schlagen, es schöpft neue Energie. Die zurückliegende Steigung war das Problem kurz vor Schluss. Ich werde die restlichen sechs Kilometer laufen – ich werde gewinnen!

Plötzlich vorbei – das mentale Ding!

Gegen 17:23 Uhr betrete ich das letzte Dorf vor dem Ziel und bemerke nach einer Weile, dass alle – wirklich alle – Rolläden des Dorfes herabgelassen sind. Und das obwohl noch 2 Stunden bis zum Sonnenubtergang verbleiben.

Ich laufe weiter und stelle fest, das nirgendwo ein Licht brennt und auch kein Mensch zu sehen ist. Eine Zombiestadt nach der Apokalypse? Nein, der einzig valide Beweis, dass es doch noch Überlebende gibt, sind Golfer die aus einem regengeschütztem Verschlag heraus ihre Bälle in die Ferne klopfen. Ein wenig weiter zielt ein Kind von der anderen Straßenseite mit seinem Golfball und Schläger auf mich und ich beschließe lieber schnell weiterziehen, bevor ich die Treffsicherheit des vermeintlich Untoten am eigenen Leib verspüren muss.

In der „Albergue“ angekommen wird flott ausgepackt und ich folge gegen 19:30 Uhr den Essenstipps meiner dortigen Pilgerkollegen. Das erste Restaurant hat inzwischen geschlossen, das zweite auch. Es gibt Bars, lasse ich mir von einem weiteren Restaurant das noch im Aufbau ist sagen, die finde ich jedoch nicht. Also weitersuchen … nichts … und so setze ich mich in ein Nobelrestaurant und warte bis 20:00 Uhr, denn dann soll angeblich ein Restaurant in der Nähe der „Albergue“ öffnen. Und siehe da – plötzlich sind mehrere Lokalitäten just in der Nähe der Herberge geöffnet und ich bekomme ein dreistufiges Pilgermenü – mit einer Flasche Wein (15,00 Euro).

So komme ich (un)dankbar für die überflüssigen Kilometer, aufgrund ungepflegter Öffnungszeiten bei Google, in der Herberge an und stoße gerade noch rechtzeitig zur Geburtstagsfeier einer Spanierin, die mir seit gestern immer wieder mit ihrem Freund begegnet. Also sitzen wir beisammen, zwei Vietnamesinnen, ein Mexikaner, ein Spanier und das Geburtstagspaar und feiern.

Von meiner lieben Familie ♥️ habe ich heute Morgen ein wunderschönes sehr passendes Gedicht zugeschickt bekommen und das muss ich mir nochmal vor der Nachtruhe einverleiben. Danke für die Muse! Ich will es zum Abschluss des Tages dem alten Olivenbaum widmen:

Gestutzte Eiche (heute: Olivenbaum)

„Wie haben sie dich, Baum, verschnitten
Wie stehst du fremd und sonderbar!
Wie hast du hundertmal gelitten,
Bis nichts in dir als Trotz und Wille war!
Ich bin wie du, mit dem verschnittnen,
Gequälten Leben brach ich nicht
Und tauche täglich aus durchlittnen
Roheiten neu die Stirn ins Licht.
Was in mir weich und zart gewesen,
Hat mir die Welt zu Tod gehöhnt,
Doch unzerstörbar ist mein Wesen,
Ich bin zufrieden, bin versöhnt,
Geduldig neue Blätter treib ich
Aus Ästen hundertmal zerspellt,
Und allem Weh zu Trotze bleib ich
Verliebt in die verrückte Welt.“

(Hermann Hesse)

#Tag 11: er ist dann mal weg

Ich träume bis zum Morgengrauen von meinen Füßen – das hat man nicht oft, es sei denn, man ist Fußfetischist – und bin frustriert, als meine sechs nur flüchtig bekannten Zimmergenoss:innen packen und bereits vor 8:00 Uhr weiterziehen.

Feinstrumpfhosen unter den Wandersocken reduzieren die Reibung und damit Blasenbildung. Leider habe ich sie zu spät eingesetzt.

Vielleicht liegt die nächtliche Sehnsucht an der Sorge vor einer Entzündung oder aber den Schmerzen, vielleicht aber auch an meinen schicken Feinstrumpfhosen unter den Wandersocken? Immerhin hätte ich es mir nie träumen lassen, dass ich mal eigene Laufmaschen habe. Warum ich von den Füßen träume? Ich weiß es nicht und es ist mir im Grunde auch egal. Ich möchte gerne unbeschwert weiterwandern, aber das ist vermutlich nicht das Ziel des Weges – fürchte ich.

Eine Pilgerfreundin (aus dem www) schrieb mir kürzlich „Ich hab die Erfahrung gemacht, dass der Camino unser altes Ich „zertrümmert“ und aus den Trümmern unseres alten Ichs uns neu zusammen setzt!“ … und ja, ich glaube, dass so etwas durch den Schmerz, die vielen schönen Dinge und die lange Zeit mit sich selbst passiert. Ich bin sehr gespannt was sich in meinem Leben verändert und freue mich neugierig darauf.

Noch im Bett ruhend, aus Angst vor dem Aufstehen und dem möglichen Schmerz (=Wanderstop), ist die Zeit gekommen einen ersten Blick in mein Schatzbuch zu werfen, welches ich vor meiner Abreise geschenkt bekommen habe. Die Zeilen, die ich von meiner Freundin Sany lese sind wunderschön, sie tun gut, wärmen das Herz und lassen mich positiv gestimmt aufstehen. Kein Schmerz – und vor allem – danke für deine Liebe ❤️

Mein ganz persönlicher Begleiter auf dem Jakobsweg. Mein Schatzbuch vollgepackt mit Fotos, Buchstabenfolgen aus Liebe 🏡

Wer meinen Blog halbwegs regelmäßig verfolgt vermisst die Fotos vom grandiosen Frühstück und üppigem Abendessen. Der Weg hat mich umgerüstet, es gibt Nüsse, Brötchen aus dem Supermarkt – als Pausensnack unterwegs auf einem Stein und zum Abendessen was sparsames, vielleicht eingünstiges Pilgermenü. Geht auch!

Frühstück auf einem Stein am Wegesrand. Neben meinem Magen freut sich mein Rücken und die Füße.

Ich laufe erstmals dank der Fersenschaumstoff-Puffer (siehe Fußfoto) aus der Ambulanz gestern Abend schmerzbefreit und spüre nur noch das Mehrgewicht meines Rucksacks in meinen Hüften. So geht also das Spiel? Kommt jetzt jede Körperstelle einzeln dran? Vermutlich besser so, als alles auf einen Streich.

Nicht sexy, aber das Erste was hilft. Der Schaumstoff federt jeden Druck von der Blase erfolgreich ab und sieht in etwa aus, wie ein Serano-Schinken. Grandios!

Egal, zwischen den endlosen Weinreben – am Ende habe ich vermutlich jede Rebsorte aus Spanien durchlaufen – bemerke ich einen Stein im linken Schuh und halte neben einem Graben. Ich denke noch – da darf der Wanderschuh nicht hineinfallen und plums: er ist dann mal weg!

Er ist dann mal weg – mein Schuh …

Zum Glück habe ich meine Wanderstöcke am Rucksack. Ich ziehe sie auf volle Länge aus und denke dabei an ein YouTube-Video über Wanderstöcke nach, das ich in meiner Vorbereitungsphase angesehen hatte, wo ein erfahrener Wanderer eine volle Stunde lang über Wanderstöcke sinniert. Er hat dabei wirklich alles an Vor- und Nachteilen erwähnt (sogar, dass man mit dem Wanderstock seinen Sitzplatz von Schafkötteln befreien kann), aber glatt vergessen, dass man mit ihnen hervorragend Schuhe bergen kann. Erleichtert darüber, dass es so einfach ging, ziehe ich den Schuh wieder an und weiter gehts.

Bereits um 14:00 Uhr komme ich nach 18 km Wanderung in der Herberge in „Nájera“ an und freue mich, noch so viel Zeit zu haben. Die Strecke gestern und heute wären unter normalen Umständen eine Tagesstrecke gewesen. Ich liege durch die Blasen ca. drei Tage (ca 60km) hinter der verbliebenen Pilgerfamilie zurück. So ist es eben und daher widme ich mich erst mal meiner häuslichen Pflichten.

Als ich meine Wäsche von Hand wasche und über meine Leine quer durchs Hotellzimmer zum trocknen hänge, sehe ich im Spiegel Schatten auf meinen Beinen. Krass – das ist meine Oberschenkelmuskulatur, die ich seit der Kindheit nicht mehr zu Gesicht bekommen habe – sie lebt noch (oder wieder?).

Und noch etwas hat sich verändert. Seit heute kann ich wieder meine Füße sehen „sie sind wieder da!“. Warum? Na klar, da sich mein Bauch sukzessive zurück entwickelt.

Neben dem Schmerz zeigen sich also viele kleine positive Veränderungen. Gerne mehr von den positiven Stimulanzien!

♥️ Danke Camino Francés ♥️ danke an alle, die mir diese Erfahrungen ermöglichen ♥️

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