#Tag 24: Tausche normal gegen zu groß

Was ist wohl die erste Aktivität an einem Pausentag? Das ist doch klar, man prüft die kommenden Wanderstrecken und zählt die verbleibenden Tage.

Ein Tag Pause für meine Füße!

Auch wenn es absurd klingt, ich werde heute das wandern wirklich vermissen und freue mich riesig auf morgen – endlich wieder durch schöne Natur und Bergwelten schreiten. Die Wüste des „Camino Francés“ liegt hinter mir und das Finale wird großartig!

Das Wanderprofil der nächsten 15 Tage ist vielversprechend. Endlich wieder Wildnis unter meinen Füßen.

Louis – der Maxikaner – verlässt heute Leon (schade) und schreibt mir, dass wir nur noch 13-15 Tage übrig hätten. Das ist wie ein Schlag ins Gesicht! Ich prüfe nach und ja, es sind nach meiner Zeitrechnung noch 15 Tage bis nach „Santiago de Compostela“. Ich bin entsetzt!

Als Ausgleich bekomme ich von meinen spanischen Weggefährten Hugo und Alexandra jede Menge Insider-Tipps für León. Sie schreiben mir, an welchen Orten ich besonders günstig Tapas oder sonstige typisch spanische Speisen verkosten kann. Man frägt sich zum besten Tapa-Viertel der Stadt durch (Calle Ancha) oder geht direkt in die Mitte von „Barrio húmedo“ und „El romántico“.

Natürlich liegt das Stadtviertel nur 100 Meter von meinem Hotel entfernt. Hier bestellt man kein großes Bier, sondern ein kleines „Corto“ oder ein „Caña“ und erhält zum Bier eine leckere Portion Tapas nach Wahl umsonst. Fürs nächste Bier geht man dann anständig in die nächste Tapa -Bar. Hugo empfiehlt mir zudem den Besuch in der Brauerei „Four Lions“, dort gibt es neben dem selbstgebrauten Bier kostenlos eine riesige Portion Serrano Schinken mit Baguette – für drei Euro! Letztere hat leider geschlossen.

Meine Entscheidung gestern war richtig, denn meine Füße sehen verbesserungswürdig aus. Am rechten Fersen hat sich zum alten Überrest eine Blutblase dazugesellt. Schade, denn das ist wirklich überflüssig, aber auch sie wird mich nicht aufhalten!

Hätte sich dieser Kollege aus León von kleinen Zipperlein aufhalten lassen? Sicherlich nicht.

Nach dem Wander-Check gehts zum Frühstück. Wie immer gibt es Bruschetta mit Olivenöl und Serano-Schinken und ich beschließe dieses Ritual in Deutschand fortzuführen. Anschließend wird manuell Wäsche gewaschen und zum trocknen an der Pilgerleine quer durchs Zimmer gehangen.

Nun geht es zum Schuhekauf, denn sie sollen 1,5 Größen mehr als der übliche Standard sein. Bei mir um die Ecke ist der größte Schuhladen in der Gegend und ich lasse mich vom Inhaber und einer Englisch sprechenden Dame beraten. Ich teste mehrere Schuhe und bin erstaunt wie bequem sie sind. Nach mehreren Versuchen wähle ich das beste Paar für mich aus, dazu gibt es zwei Paar Merino Socken, die die Feuchtigkeit aus den Schuhen tragen sollen. Ich lerne von der Verkäuferin, dass ich künftig mehrfach am Tag die Socken wechseln muss. Die Füße müssen permanent trocken liegen und das ist bei langen Wanderstrecken ohne Wechsel nur schwer möglich.

Tausche normal gegen zu groß. Ob es die richtige Entscheidung ist, wird sich zeigen!

Mit meinen alten Schuhen im Versandfertigen Plastikbeutel wandere ich nun ins Hotel zurück. Anschließend geht es auf eine 8 km Tour kreuz und quer durch Lyón um die frisch imprägnierten, neuen Schuhe einzulaufen.

Die Kathedrale von Lyon hat 1.800 m² Fensterfläche und ist ganz sicher das Glanzstück der gotischen Baukunst in Spanien. Der weiter oben dargestellte Ritter aus dem Kreuzzug von „San Isidor“ wird am 26.04. jeden Jahres geehrt. Wie? Die Stadträte von Leòn nicken den Kirchenbehörden öffentlich zu. Nun gut, wenn man sonst keine Probleme hat!

Und nun liege ich auf meinem Bett und freue mich wie ein kleines Kind auf morgen. Meinen Füßen geht es wesentlich besser. Entweder es liegt an der Portion Reiki, den Medikamenten oder an den neuen Schuhen. Danke 🙏🏻 Gudrun, sagte der ungläubige Thomas. Morgen geht es endlich weiter – ich bin aufgeregt. Buen Camino!

#Tag 23: Time warp aus dem Hobbitland

Ein schwarzhaariges, lockiges Mädchen schläft seit meiner Ankunft gestern gegen 18:30 Uhr mit dem Schlafsack über dem Kopf in der Herberge. Auch zur Essenszeit gestern Abend steht sie nicht auf und bevorzugt stattdessen den Schlaf bis zum Morgengrauen. Als sich mein Wecker des Morgens aktiviert, starte ich, genauso wie der Spanier am Ende des Schlafsaals, mit dem Packen im dunkeln. Man will ja freundlich sein.

Das Mädchen schläft weiter, nur die Haare sind sichtbar. Kurz vor 8:00 Uhr kommt der Herbergsvater und schaltet das Licht ein und weist das Lebewesen (?) darauf hin, dass es noch 5 Minuten hat, bis es den Schlafsaal gepackt, gesattelt und gestriegelt verlassen muss.

Es bewegt sich, setzt sich hin und verfällt in eine 45-minütige Schockstarre, lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und – hupps – es ist der Engländer welcher während meiner Auszeit vor einiger Zeit mit mir zeitgleich sein Abendessen eingenommen hat.

So schnell kann man sich täuschen und ich stelle freudig fest, dass ich nicht der einzig langsame Wanderer auf dem Jakobsweg bin.

Man nimmt es in Spanien nicht so genau mit den Zeiten und Maßangaben und auf dem heutigen Weg wird mir auch bewusst, dass die Spanier damit Recht haben. Es gibt nicht den einen Weg, es gibt viele angrenzende Wege. So wählt meine Ninja-App heute beispielsweise einen Weg an der Straße während der traditionelle Weg eine Abkürzung durch schöne Felder vorsieht. Beide Wege sind der Jakobsweg.

Ihr fragt euch sicherlich warum „die Hälfte des Weges“ für mich so wichtig ist? Ich kann nicht einschätzen, ob die zweite Hälfte nach der spanischen Berechnung mittels Würfeln genauso lang ist wie die Erste.

Wenn ja, dann wäre die Gesamtstrecke wesentlich länger als von mir geplant. Denn immerhin bin ich gemäß eigener Buchführung bis Tagesende 421 Kilometer gelaufen. Demnach wäre die Strecke keine 775 Kilometer sondern 842 Kilometer und ich bräuchte 42 Tage ohne Pausen. D.h. ich müsste ab jetzt viel mehr Kilometer pro Tag laufen oder einen Sicherheitspuffer mit Bus oder Bahn schaffen. Schneller geht keinesfalls mit meinen aktuellen Gesundheitsproblemem – muss ich etwa der Vernunft weichen und mir eine Pause gönnen?

Der riesige, freundliche Hof-, Haus- und Schoßhund. Unser nächster Hund? Der Cão de Castro Laboreiro ist eine portugiesische Hunderasse.

Heute starte ich wie gewohnt als Geisha den Tag mit den gleichen Schmerzen wie gestern Abend. Erst nach 1-1,5 km hat sich mein Körper daran gewöhnt und die Schmerzen lassen nach oder werden ausgeblendet. Man sagt, dass immer die ersten (ca. 1km) und letzten Schritte (ca. 3-4km) eines Tages die schmerzhaftesten sind und das wird sich wohl bis zum Ende des Caminos nicht ändern.

Die Lehmhäuser sind offensichtlich pflegebedürftig und viele verfallen wenn sie der Witterung ausgesetzt sind.

Es geht heute wieder geradeaus an der Straße entlang. Nach einer ganzen Weile biegt der Weg zumindest auf einen Feldweg ab der sich schön bewandern lässt. Die Strecke zieht sich, aber ich bin motiviert, schreite zügig voran und mache meine Pausen.

Die Pausen sind stets eine Abwägung zwischen Entspannung, Regeneration und dem Schmerz bis die erneute Gewöhnung eintritt.

Also nicht übertreiben – und so mache ich Mittagspause in „Moratinos“, einem kleinen Dorf mit Lehmhügeln, in die kleine Höhlen eingelassen sind – sogenannte „Bodegas“. Diese dienten früher der Lagerung von Lebensmitteln und Weinherstellung und sind Teil einer Weinkultur, die 2.000 Jahre bis zu den Römern zurückreicht.

Ungefähr 7 km vor dem Tages Ziel mit 22 km, treffe ich die über siebzig Jahre alte Dame (wandert bereits 800 km durch Frankreich) die mit mir zur selben Zeit, wie der gelockte Jüngling von heute Morgen, in der gleichen Herberge war. So schließt sich der Kreis.

Sie hat mir damals den wertvollen Tipp gegeben, auf meinen Körper zu achten und langsam zu machen, da ich somit insgesamt schneller bin. Ist sie der Bote meiner Entschleunigung?

June aus GB, sie bringt meine Entschleunigung und sie sagt: „in Finistera gibt es Muscheln am Strand – sie nach dem Jakobsweg zu sammeln, sei etwas besonderes“. Sie hasst Menschen die ihre Orangenschalen abseits des Weges lassen.

Ich begleite die Dame den Rest des Weges und wir führen spannende Gespräche. Sie sagt, dass „der Camino einen nachhaltig verändert. Man nimmt seine Umwelt und die Natur mit anderen Augen war, man schätzt die kleinen Dinge des Lebens und man achtet auch viel mehr auf seine Gesundheit.“ Am Ende unseres Wegs sagt sie: „Je länger man läuft, desto weniger braucht man“ – das hört sich gut an!

Aufgrund des interessanten Gespräches merken wir nicht wie schnell wir voranscheiten und plötzlich sind wir fast da, in der Stadt der offiziellen Hälfte des spanischen Caminos.

Ab in die Städtische Herberge von „Sahagún“, eine offizielle Urkunde zur Halbzeit des Caminos ergattern. Wie auch immer sie dort die Halbzeit gewürfelt haben, ich nenne sie jetzt mein Eigen und habe sie sicher im Rucksack verwahrt.

Offizielle Urkunde der Stadt „Sahagún“ für die Halbzeit des spanischen Teils des Jakobsweges (ab „Roncesvalles“). Die reale Halbzeit ist schon lange ungefeiert an meiner Aufmerksamkeit vorbei geschritten.

Kurz vor dem Ziel beginnen die Füße wieder fürchterlich zu schmerzen und es ist wieder der gewohnte Watschelgang. Wir unterhalten uns und sie erzählt mir davon, dass sie am Abend mit dem Zug nach León fährt.

Ich denke nach – meine Entscheidung – und ich wäge ab zwischen zwei Extremen ab: Einerseits der wohltuenden Förderung meiner Gesundheit und andererseits dem alt eingesessenen Ehrgeiz, dem inneren Leistungswille, den Weg zu laufen.

Ich entscheide mich für meine Gesundheit, verschaffe mir einen Puffer und überspringe den Rest der langweiligen Wanderwüste des Caminos. Meine Füße und mein Schienbein werden es mir danken.

Ich kaufe mir ein Zugticket, welches mich in die Zukunft beamt. Wir rauschen nach nur 10 Minuten Wartezeit gemeinsam mit dem Regionalzug davon und treffen nach kurzer Zeit in León ein. Für 6,30 € habe ich mir 2,5 Wandertage ergaunert – es fühlt sich komisch an.

Vielleicht schaffe ich mit diesem Puffer, über Santiago hinaus zu wandern – bis nach Finistera. Denn viele Pilger sagen, dass sich das Ende in „Santiago de Compostela“ unvollständig anfühlt weil die Füße weiter wandern wollen. Insider sprechen vom „Coitus interruptus“ Effekt. Erst in Finistera hat man das Gefühl: „erfüllt“, und man sagt „wenn Du dich dort umdrehst, dann geht der Vorhang auf!“

Meine geliebten „Mädelz“, das Schaf auf dem Schild vom heutigen Tage ist für euch ♥️

#Tag 22: Schritte einer Geisha

Um 6:30 Uhr geht mein Wecker und ich stehe auf und fühle in meine Füße hinein. Die rechte Wasserblase am Fersen war eigentlich verheilt, fühlt sich inzwischen empfindlich an – da wird sich doch wohl keine Entzündung einschleichen? Der Ballen ist unverändert und ich mache Fotos, denn sehen kann ich die Wasserblasen an der Stelle nicht. Zur Einschätzung der Gesamtsituation werfe noch einen Blick in die „Camino-Ninja App“ und muss feststellen, dass in den nächsten Ortschaften und auch am Tagesziel „Terradillos de los Templaroos“ in 26,4 km keinerlei Gesundheitszentren oder Ärzte ansässig sind. Daher entscheide ich mich zu bleiben und zur Mittagszeit mit meinen Blasen vorstellig zu werden.

Manchmal frage ich mich wieviel Show und Marketing hinter dem Weg steckt. Hier ein Pilger in – sagen wir mal – traditioneller Uniform

Ich schreibe Astrid eine Whatsapp und teile ihr mit, dass sie mit dem anderen niederländischen Pärchen leider alleine weiterziehen muss und bedanke mich für die gemeinsame Zeit. Sie hat mir viel von sich und ihrer Familie erzählt und auch ich habe von meiner Vergangenheit geplaudert. Es wahren tolle Gespräche die zum Nachdenken angeregt haben – dafür ist er da der Camino – danke liebe Astrid!

Was mich am Meisten aus unseren Gesprächen beeindruckt hat, ist die Notwendigkeit des Inneren „ICHS“, die Geschichte, Situation und Motivation der eigenen Eltern zu verstehen. Sie sagt, „nur wenn man mit den Eltern oder Menschen die einem wichtig sind, zu deren Lebzeiten über die Dinge und Fragen spricht, die einem wichtig oder unverständlich sind und ggf. die Beziehung nachhaltig emotional beeinflussen, kann man die Motivation und/oder die Situation dahinter verstehen und damit Frieden schließen.“ Spricht man nicht darüber, wird es keine befriedigende Antwort geben.

Das klingt logisch und ich bin sicher jeder von uns kann in seinen tiefen Windungen des Gehirns ein paar Fragen zu seiner Kindheit oder sich selbst finden, die des klärens Wert scheinen. Oder?

Die Sonne scheint und die nächste Runde ist eingeleitet. Vamos!

Ich gehe Frühstücken und kann endlich wieder – wenn auch nur kurz – mit einem Teil meiner Alsdorfer Familie telefonieren. Ich vermisse sie sehr und es ist ein komisches Gefühl zu sehen, wie schnell sich mein kleiner Paulemann weiterentwickelt. Auf einem Foto sehe ich wie seine liebevolle Schwester ihm hilft, einen dicken Ast zu tragen – wunderschön. Danke liebe Noemi, du bist ein tolles großes Mädchen und danke, dass du deinen Paul so sehr liebst ♥️.

Ich freue mich darauf, sie alle endlich wieder in die Arme zu schließen und wir beratschlagen die Optionen für meinen Heimweg. Alle Flüge aus „Santiago de Compostela“ sind an Ostern überteuert – die beste Option wäre es, wenn ich (erst nach Ostern) an meinem Geburtstag heimreise. Die überschüssige Zeit könnte ich meiner Langsamkeit gönnen oder noch bis ans Ende der Welt wandern – Finistera!

Gedacht, besprochen, getan – ich fliege an meinem Geburtstag von Santiago nach Amsterdam und werde dort von meiner besten Alsdorfer Familie der Welt aufgegabelt. Ein Wiedersehen – das schönste Geschenk das man sich wünschen kann. Vorab jedoch zurück in die Realität des Caminos.

„Hier werden sie geholfen.“ das Gesundheitszentrum in Spanien.

Das im Ort ansässige Gesundheitszentrum hat keine guten Bewertungen im Internet und auch von außen ist es wenig einladend. Aber ich brauche eine Lösung für die knackig gefüllten kleinen Wasserblasen an meinem Beinfortsatz. Heute habe ich mehr Glück – die Pforten sind geöffnet – und das 23 Minuten vor 12:00 Uhr. Die Wartezeit kann sich mit sechs Minuten sehen lassen.

Eine ältere Dame wird vor mir behandelt, sie hat wirklich Schmerzen und dagegen sind meine selbstverschuldeten Hautabhebungen reine Peanuts! Die Blasen werden aufgestochen, manuell entleert und dann frisch in Sterilität gehüllt – ein Akt in 5 Minuten. Zur Sicherheit frage ich anschließend angespannt nach – alles gut, ich kann weiterlaufen – aber neue Schuhe sollte ich mir gönnen – 1,5 Größen mehr darf es sein. Die alten Schuhe werden geschnürt, der Rucksack gesattelt und los gehts!

Ich laufe eine ¾ Tagestour mit knapp 19 Kilometer. Es geht eine lange gerade Strecke an der Straße entlang, dann gerade aus, gerade aus ins Feld und dann zur Abwechslung schnurgerade ins Ziel. 19 langweilige, Kilometer – aber dennoch schön.

Ich mache viele Pausen, teile mir das Wasser ein und gönne meinen Füßen alle 5 Kilometer frische Luft. Ich spüre meine Füße, wie sie kribbeln und aufathmen, sich ausdehnen, sobald sie in Freiheit gelangen. Der Fokus meiner Sinne liegt auf dem Fuß und das ist nicht gut, denn zu viel Achtsamkeit macht sich mit gesteigertem Schmerzempfinden bemerkbar.

Die letzten 4 Kilometer werden die Hölle und ich lenke mich mit einem Hörspiel ab. Dann wieder Pause, weiterlaufen und bei der nächsten Sitzmöglichkeit unter einem Verschlag kommt – ich kann nicht mehr – die letzte Pause des Tages.

Völlig erschöpft: ein Verschlag für Pilger soll meine letzte Rast für heute sein. Rettung naht (?)

Und plötzlich, ich kann mein Glück nicht fassen, höre ich ein Auto auf dem Schotterweg. Das erste Auto des Tages – auf meinem Weg. Schnell die Schuhe an, den Rucksack dürftig auf die Schulter gepackt und los zum Feldweg.

Ein weißer Toyota Pickup kommt angebrummt, Staubwolken begleiten ihn und ich bin sicher, dass er mich die letzten drei Kilometer mitnimmt. Wo soll er auch anders hin, es geht nur gerade aus. Er kommt immer näher und ich will gerade meinen Daumen zücken, als er direkt vor meinem Verschlag rechts querfeldein ins Feld entschwindet. Er fährt eine Abkürzung durchs Gelände, tiefe Pfützen, er schlingert ein paar mal hin und her, er hat Spaß – und weg ist er.

Kurz vor der letzten Rast sind es noch 405 km nach „Santiago de Compostela“ geht man von 775 Kilometern Strecke aus war es bereits Halbzeit. Manche Angaben gehen bis zu 850 Kilometern – dann steht die Halbzeit noch bevor.

Schade, das wäre toll gewesen. Aber es gibt keine Wahl, weiter gehts mit starken Schnerzen an den Füßen und so laufe ich die letzten Meter humpelnd wie eine Geisha mit künstlich verjüngten und verkrüppelten Füßen auf dem Strich – meines Weges – geradewegs zur Herberge.

Es wird ausgepackt, flott geduscht, das Bett gerichtet und dann gehts zum Pilgermahl. Ich fühle mich wie frisch geboren!

#Tag 21: Halbzeit im Staffellauf

In Spanien misst man offensichtlich mit unterschiedlichem Maß, denn wir kommen immer wieder an Pilgermarkierungen am Wegrand vorbei, die die Entfernung bis zur Kathedrale von „Santiago de Compostela“ zeigen. Allerdings zeigen sie mal mehr und mal weniger Kilometer bis zum Ziel – und ja, die Marschrichtung ist konstant und ich gehe auch in die richtige Richtung.

Auf jeden Fall ist heute Halbzeit der geplanten 42 Tage. Laut den gelaufenen Kilometern dürften es noch 390 km bis zur Kathedrale sein, laut Anzeige in der Herberge sind es 405 km und im Dorf zeigt man noch 442 km. Was denn nun?

Aber im Grunde ist es mit den Kilometern auch egal, denn das Risiko liegt nicht im Mittelpunkt des Weges, sondern verlagert sich zum Südpol meiner Route und konzentriert sich auf die letzten 5 Wandertage.

Die Kandier aus unserer Gruppe haben bereits die Herbergen für die letzten 100 Kilometer gebucht. Das klingt verrückt, denn sie haben sich damit jegliche Flexibilität genommen und so stellt sich die Frage nach dem „warum“? Sie erzählen von einem drohenden Engpass der Herbergen vor „Santiago de Compostela“.

1. Zur Ostermesse möchten viele Pilger die Kathedrale von Santiago besuchen und zudem gibt es dieses Jahr ein großes christliches Fest.

2. Damit die Spannung am Anschlag bleibt, wird die Situation dadurch verschärft, dass in Spanien Feiertage an einem Sonntag, auf die folgende Arbeitswoche verschoben werden. Somit gibt es für alle Spanier an Ostern eine lange, freie und damit sehr reizvolle Pilger-Woche.

3. Um die Urkunde der „Compostela“ zu erhalten muss man keine 820km wandern. Es reichen letztendlich die letzten 100 Kilometer insofern man diese brav mit zwei Stempel pro Tag belegt – quasi ähnlich dem Bonusheft beim Zahnahrzt. Hat man am Ende einen zu wenig, ist man raus und bei diesen Stempeln setzt das dritte Risiko an.

Es gibt einen Tourismuszweig, der sich gegen Entgelt darauf spezialisiert hat, ganze Busse voll Möchtegernpilger von Herberge zu Herberge zu fahren, damit diese ihr Stempelheftchen füllen können. Da die Busse i.d.R. vor den Wanderern ankommen, nehmen sie deren wohlverdiente Ruhestätten weg.

Jetzt stelle man sich vor, dass eine Menschenschlange aus echten Pilgern wie erschöpfte Zinnsoldaten in einer Reihe steht. Nun gebe man die gesamten Pilgerfamilien der Spanier hinzu und addiert dann noch die Busreisenden Betrüger, die sich gierig und ungeduldig vom Parkplatz einschleichen. So bekommt man in etwa eine Vorstellung wie das Finale verläuft.

Nach 700km Wanderung gibt es sicherlich schönere Momente als die letzten 5 Tage auf dem Jakobsweg in einer supermarktähnlichen Schlange zu pilgern. Auch wenn man sich dort nur geringfügig drehen muss, um neue Lebensgeschichten, Erfahrungen und damit Perspektiven zu erfahren. Der bisherige Weg ist sicherlich attraktiver.

Aber was bedeutet es nun für mich? Ich müsste buchen (Herbergen und Flug) oder noch besser vor dem Wanderstau die letzten 100 km absolvieren. Aber es ist für mich noch nicht planbar (siehe nächste Zeilen) und eine Beschleunigung oder Hetze ist auch nicht vorteilhaft, denn die wird definitiv mit neuen Blasen bestraft. Ich werde in 100 Kilometern bei Leon entscheiden.

Meine Knochenhautentzündung ist dank der elastischen Binde nicht mehr spürbar – Problem gelöst. Vielleicht hat auch die Salbe geholfen oder aber die zwei Portionen Reiki. Oder alles zusammen. Egal!

Für den Merkzettel: Sehnenproblem, Knochenhautentzündung oder auch „Shin Splints“ genannt - fest sitzende elastische Bandange - fertig!

Heute ist dennoch nicht mein Tag. Ich komme nach nur 19,5km mental wirklich angeschlagen in der Herberge „Carrión de los Condes“ an. Meine unteren Gliedmaßen spielen mit mir offensichtlich Staffellauf. Kaum ist ein Problem gelöst, ist das nächste am Start.

Heute freue ich mich über ein schmerzfreies Bein und zack – da sind sie wieder, meine Wasserblasen unter dem Ballen. Die alten wurden vor Wochen erfolgreich zurückgedrängt und jetzt wollten sie doch ans Tageslicht.

Damit sie nicht so einsam sind haben sie das nebenstehende Gewebe überredet und gemeinsam 3-4 Blasen am linken Ballen gegründet. Nun sind sie da, prall gefüllt und sorgen mit deren Schmerz dafür, dass ich keinen Schnerzmangel erleide.

Ich empfinde es schon fast lästig immer nur über Wehwehchen zu schreiben, aber es tauchen ständig Neue auf. Den Rest kennt ihr im Grunde schon.

Ich gehe wie üblich ins „Centro de Salude“, möchte dort eintreten und stelle fest, dass die Türen fest verschlossen sind. Die Öffnungszeiten sind 24h an jedem Tag der Woche. Das Licht ist aus und kein Mensch ist zusehen und das fühlt sich nicht gut an. Zumal ich mich mit den ungeschützten Blasen hierher geschleppt habe. Ich klingle, klopfe, rüttle an der Tür – kein Erfolg.

Ich gebe auf und versuche es nach dem Abendessen nochmal (wir suchen im Übrigen 1h lang verzweifelt nach einem geöffneten Restaurant). Gegen 21:30 Uhr lerne ich, dass es strickte Öffnungszeiten für Wasserblasen gibt. Um 12:00 Uhr zu Mittag und abends um 18:00 Uhr genau vor dem Sandmännchen. Ganz nach dem Motto „guten Mittag Herr Blase“, vielleicht aber auch nicht, denn mit den Öffnungszeiten nimmt man es in Spanien absolut nicht genau. Schon garnicht während einem Fußballländerspiel …

Morgen Früh wird entschieden, wie es weitergeht.

Buen Camino ♥️

#Tag 20: Hoffnung verleiht Flügel

Kanada, Frankreich, Australien, Niederlande, Deutschland … der kulturelle Mix ist wirklich erstaunlich.

Meine Zimmergenossin stürmt gegen 4:30 Uhr Morgens unser Herbergszimmer, welches wir uns mit einem Deutschen teilen, der alle Herausforderungen des Camino Francés tiefenentspannt mit der Batterie seines E-Bikes meistert. Ich frage sie, ob alles in Ordnung sei und sie teilt mir entsetzt mit, dass alle Räume verschlossen sind.

Ich schließe aus der spürbaren Dringlichkeit, dass auch die Toiletten – sie befinden sich üblicher Weise in Räumen – verschlossen sind und wundere mich darüber nicht. Hier in Spanien und insbesondere in der Herberge ist wirklich alles möglich.

Ich verspüre einen naheliegenden Wunsch, aber er ist mir offensichtlich verwehrt. Also drehe ich mich um und schließe die Augen und spare mir die Erleichterung wiederwillig für später auf.

Am Morgen erfahre ich, dass lediglich der Aufenthaltsraum verschlossen war. Wir müssen innerlich über den Interpretations(frei)raum, die daraus gewachsenen Missverständnisse lachen und laufen los.

Nach nur 11km machen wir Rast. Mein Schienbein ist zu dieser Zeit bereits so stark geschwollen, wie am Vortag nach stolzen 20km. Zur Abwechslung verfärbt es sich leicht – nennen wir es abgedunkelt, wie ein UV-Filter – und sorgt damit für ein ungutes Gefühl. Es sieht seltsam aus!

In der Bar angekommen, gibt es das fünfte Frühstück des Tages. Die erste Portion gab es in der „Herberge der verschlossenen Räume“, die Zweite war eine der 999 anderen Fliegen, die den ganzen Tag hochmotiviert um meinen Kopf schwirrten. Sie hat ihren Lebensmut genau im richtigen Moment, tollkühn mit Überschallgeschwindigkeit gezielt in meinen Rachen gesteuert. Dummer Weise haben es zwei ihrer Verwandten gesehen und es ihr gleich getan. Protein hab ich vorerst genug und passend zu meiner Beinfarbe bekomme ich in der Bar, Eis für meine Kühlung dieser. Das tut gut und das Bein schwillt etwas ab und auch die Farbe verwandelt sich in das übliche Rot. Es wird besser!

Was tun? Ich bin wirklich beunruhigt, zu tiefst betrübt und auch Astrid merkt, dass ich mental wirklich am Boden bin. Aber es wird weiter gehen, es muss eine Lösung geben. Ich kühle weiter und denke nach.

Es gibt kein Schicksal, es gibt nur Entscheidungen. Manche Entscheidungen sind leicht und manche nicht und das sind die, auf die es ankommt - die uns zu dem Menschen machen der wir sind, uns zum Ziel bringen oder auch nicht. Diese Entscheidung ist eine dieser Tragweite. 

Ich habe drei ggf. auch vier Optionen. Ich laufe bis zum nächsten Dorf (8km) zur dortigen Herberge, kehre ein und verlasse mein geschätztes Team. Oder ich laufe die restlichen 13km bis zum Tagesziel und suche dort das „Centro de Salud“ auf. Alternativ könnte ich nach dem nächsten Dorf mit dem Taxi nach „Frómista“ fahren und dort einen Arzt oder Apotheker befragen. Ich könnte auch ein paar Tage mit dem Fahrrad fahren – sofern man diese leihen könnte. Ich weiß es nicht?

Warum geschieht dies? Ich habe die Blasen überlebt, jetzt laufe ich auf meiner Knochenhaut dahin und dann? Soll es meine Lektion sein, auf meinen Körper zu achten und dessen Grenzen zu respektieren. Ich denke mehr Achtsamkeit wäre grundsätzlich nicht verkehrt.

Oder gibt es doch so etwas wie Schicksal? Ich bekomme von einer Freundin aus den virtuellen Welten einen spirituellen Tipp, das Reiki bei einer Knochenhautentzündung Berge versetzen kann. Genau das ist es was ich brauche – mal eben einen Berg versetzt. Sie schreibt „ich müsste nur jemanden finden, der bei mir Reiki praktizieren kann“. Kein Problem, ich habe es vor über 15 Jahren bis zum Dritten Grad gelernt – um zu sehen, ob es tatsächlich funktioniert. Ich hatte zwar eindeutige Beweise bei Tieren, die keinen Placeboeffekt unterliegen können und habe es trotzdem seither nie wieder praktiziert. Man nannte mich damals den „ungläubigen Thomas“. Aber das gute an Reiki – man verlernt es nie.

Es ist zumindest einen Versuch Wert. Das ist der Funke Hoffnung nach dem ich gesucht habe, mein Strohhalm des Tages. Ich werde das Problem lösen und werde es schaffen weiter zu gehen.

Unser vierköpfiges Pilgerteam (Niederlande und Kanada) ist zu diesem Zeitpunkt bereits seit ca. 30 Minuten aus der Bar aufgebrochen und auf dem Weg nach Fórmista. Lediglich Astrid hat beschlossen, mich zu begleiten und mich zu unterstützen, auch wenn wir spät ankommen sollten. Die langsame Geschwindigkeit und zahlreichen Pausen sind auch für sie gut, sagt sie. Ein dickes Dankeschön dafür.

Mein Bein ist nach der regelmäßigen Kühlung, den zahlreichen Pausen und meinem neuen Hoffnungsschimmer wesentlich weniger geschwollen und nur noch im Standard-Rot

Die neue Hoffnung verleiht Flügel und wir holen die anderen Pilger bald ungewollt ein. Wie konnte das sein, wir sind doch nicht schneller unterwegs als sonst. Oder doch? Ich prüfe unsere Geschwindigkeit – nein, statt üblicher 4 bis 4,5 km/h sind wir stolze 5,4 km/h unterwegs – ohne es zu merken. Wir bremsen uns ein, aber es geht nicht. Nur sechs Kilometer vor dem Ziel kehren wir nochmals ein und ich kühle mein Bein und gebe schon mal eine Portion Reiki, zudem trinke ich weitere 1,5 Liter Wasser, … bis zum Abend sollen es fast 4,5 Liter sein.

Aber – zufällig (?) – sind wir nach 25,3km Fußmarsch in der Stadt „Frómista“ angelangt. Jetzt kommt der zweite, entscheidende Tipp – Heidi und auch mein Herbergsvater erinnern mich daran: Es ist die Stadt meines Beitrages vom 14.03. – mit der Wunderapotheke und des bekannten Apothekers mit seinen Heilelexieren. Das soll meine Lösung sein! Ein unendliches Dankeschön!!

Es dürfte nicht wesentlich überraschen, dass die Apotheke in der Nähe der zufällig gewählten Herberge liegt und zudem geöffnet hat. Ich irritierte das Personal, indem ich den Namen des Apothekers „Juan Ramón Rodríguez“ einfordere. Aber er ist nicht da und so verlassen beide freundlichen Pharmazeuten die Apotheke, um ihn von seinem privaten Zuhause zu holen. Er kommt – ich strahle bis hinter beide Ohren – und zeige mein Malleur. Er greift nachbdem Schienbein und stellt fest, dass er „die Sehne kratzen fühlen kann“.

Autsch – allein die Vorstellung tut weh – und ich denke auf Basis seiner Reaktion, dass mein Camino nun beendet ist.

Aber nein! Ich bekomme eine elastische Wadenbandage, eine selbst gebraute Wunder-Creme für das Schienbein, und eine weitere für Wasserblasen dazu. Das Beste ist, ich kann weiterlaufen!

Wohl bekanntester Apotheker auf dem Camino: Juan Ramón Rodríguez Medina Av. del Ingeniero Rivera, 21, 34440 Frómista

Ich muss morgends und Abends cremen und die Schiene tagsüber tragen – 10 bis 14 Tage – und das war’s. So einfach zu lösen wie meine Sehnenscheidenentzündung durch mein Training mit den Wanderstöcken – ihr erinnert euch vielleicht.

Ein Traum, wir gehen essen – die besten Spearrips und die beste selbstgemachte Sangria der Welt. Natürlich – ich bin überglücklich, da ich keine Pause machen muss.

Elastische Wadenbandage, durchblutungsförderndes, aber dennoch kühlendes Gebräu sowie eine Creme gegen Wasserblasen

Ich bin unendlich dankbar – Buen Camino!

#Tag 19: Eiszeit

Über den Camino Frances sagt man: von „Sant Jean Pied de Port“ bis „Burgos“ (habe ich gerade beendet) prügelt einem der Camino das alte Leben raus, zerstört unser altes Ich. Von Burgos bis Leon (ich wechsle gerade in diese Etappe) öffnet man sich für neue Ideen, Gedanken und wird aus den Trümmern des alten Ichs neu zusammengesetzt. Ab Leon (in 157km, also in ca. 8 Tagen) sieht man sein Umfeld und das Leben mit neuem Blick und es eröffnen sich neue Perspektiven. Nun, es gibt also Hoffnung 🤪.

Diese Hypothese entspricht im übrigen meiner Interpretation des Caminos, wo der Schmerz und das Leid notwendiges Übel sind, um die eigene Transformation voranzutreiben. Aus der reinen Komfortzone heraus ist nicht ausreichend Weiterentwickungsnotwendigkeit gegeben. Das ist aber nur meine aktuelle Einschätzung und ich bin gespannt, ob sich dieses Weltbild am Ende des Caminos ändert.

Ist also der Austausch mit anderen Pilgern – der für Hugo das Wesentliche ist – mit deren Erfahrungen und Perspektiven der zugehörige Katalysator der eigenen Transformation? Ich denke schon.

Albergue municipal

Der Tag beginnt zeitig! Die italienischen „Roadrunner“ vom Vortag verlassen gegen 6:00 Uhr die Herberge. Einer von beiden scheint sehr organisiert und hat seinen frühen Start akribisch geplant. Ein Griff zum Rucksack, ein weiterer für einen Beutel mit Utensilien und ein dritter für seinen Schlafsack, es folgen 5 Schritte durch die Dunkelheit und er ist weg. Vorbildlich leise – danke!

Sein Kollege kramt alles einzeln zusammen, raschelt mit seinen Tüten, verliert die Hälfte, läuft hoffnungslos verloren hin und her, stöhnt vor Überforderung, verlässt den Raum, kommt zurück und macht das Licht an, um zu schauen ob er bei seiner erstaunlichen Aktivität nichts vergessen hat. Ich habe den Tag folglich mit zwei sehr konträren und daher äußerst interessanten Erfahrungen gestartet und – da ich jetzt ohnehin wach bin – stehe ich auf und freue mich auf mein Frühstück.

Es gibt Baguette und bei Bedarf kann ich es toasten, was jedoch überflüssig ist. Das Baguette ist so trocken, dass die Wärme keinen zusätzlichen Knuspereffekt bewirken kann. Eine Portion zusätzliche Marmelade soll mich darüber hinweg trösten – alles gut. Während ich vor mich hinknuspere, kommt der Volentär und wirft das restliche Brot aus dem Brotsack in den Müll. Schade, ich war der letzte Nutznießer dieser harten Delikatesse – ob ich das persönlich nehmen soll? Natürlich nicht, ich nehme einen Schluck vom tiefschwarzen Kaffee und freue mich auf die Sonne – endlich Sonne!

Ich verlasse die Herberge gegen 7:45 Uhr und mache ein Foto von meinem heutigen, außergewöhnlichen Look – Luftkühlung und Regenprävention.

Heute Nachmittag soll es regnen und daher müssen die Hosenbeine dranbleiben damit kein Wasser in meine Schuhe eindringt – das gibt Wasserblasen.

Als ich meinen Fußmarsch starte, kommt eine niederländische Dame – Astrid – des Weges und ich komme mit ihr ins Gespräch. Wir starten gemeinsam, steigern uns gegenseitig in der Erwartungshaltung der vermeintlich schnelleren Geschwindigkeit des Anderen die Geschwindigkeit und irgendwann fällt es mir ein – ich wollte langsam machen. Bremse rein und wir laufen den Rest des Tages gemütlich. Zu Halbzeit des Weges frühstücken wir gemeinsam ein zweites Mal und führen interessante Gespräche über den Camino, unsere Kinder und unsere Lebensgeschichte.

Es waren inspirierende Gespräche, z.B. darüber, dass das wesentliche im Leben ist, dass man mit jenen Menschen die man liebt viel Zeit verbringt, sie unterstützt sich selbst zu finden und für sie da ist, wenn Bedarf besteht.

Die Sonne scheint und die 20,5km vergehen wie im Flug. Meinem Fuß geht es gut, aber er schwillt wieder erheblich an. Aber gut, das ist eben so und in meiner Herberge wartets Eis – auch wenn dieses nicht von Nöten sein soll.

Heute habe ich keine Herberge reserviert und wir wählen diejenige, mit der besten Bewertung. Sie hat geschlossen, aber im nächsten Haus gibt es Abhilfe. Es wird geduscht und dann gefroren bis sich die Balken biegen. Es ist so unbeschreiblich kalt in dem Gemäuer, dass alle Pilger dick bekleidet in ihren Schlafsäcken verschwinden. Dort wird zitternd ausgeharrt, bis es um 19:00 Uhr hoffentlich warme Speisen gibt.

Froststarre, der Kampf gegen den sicheren Tod in der Eiszeit unserer Herberge – die Heizung startet erst in zwei Stunden – um 18:00 Uhr – hofft man.

Immerhin bekommen wir mehr Decken – um 18:30 Uhr – und von der Heizung fehlt weiterhin jede Spur. Falls es morgen keinen Beitrag gibt, könnt ihr bitte die Bergrettung rufen. Das wäre nett!

Nach dem Abendessen hatte der Herbergsvater eine besondere Überraschung für uns. Zunächst durften wir die historische Weinpresse erproben und anschließend wurden wir mit Öllampen in den Keller entführt. Einem Weinkeller mit Steinen aus dem 14. Jahrhundert mit vielen verstaubten alten Schätzen. Bis zu 5km lange Gänge führten damals zu benachbarten Häusern und der Kathedrale. Im Keller gibt es Schutzräume für bis zu 20 Personen. Der Eingang zu diesen war verjüngt, so dass nur eine Person hindurchschreiten konnte. Eindringlinge überlebten diesen Versuch in der Regel nicht. Zum Schluss gab es eine kleine Weinverkostung – Ende gut, alles gut!

Eine kleine demographische Schleife zum Schuß: die spanische Dame welche uns gestern Abend in der staatlichen Herberge bekocht hat, erzählte, dass der Camino Francés primär von Italienern (im Sommer), gefolgt von Deutschen (verstärkt Mai und Oktober) und Koreanern (eher im Winter) besucht wird.

#Tag 18: Mittelfinger für falschen Ehrgeiz

Meine Wasserblasen heilen und jucken die ganze Nacht und ich schlafe trotz Einzelzimmer sehr unruhig. Ich stehe gegen 8:00 Uhr wie gerädert auf und merke, dass mein linkes Schienbein sich anders anfühlt. Das Bein ist kaum noch geschwollen, dafür fühlt es sich innen an, als wäre es nicht zugehörig. Wie ein hartes, unbewegliches Element innerhalb meines Körpers. Vermutlich spüre ich den Übeltäter persönlich – die einzelne entzündete Sehne an der Knochenhaut – das Luder!

Statt zu meinem Körper zu finden, entwickle ich mich quasi rückwärts. Meine Fußsohlen fühlen sich nicht zugehörig an, Schienbein ebenso. Wenn das so weitergeht werde ich mich von innen heraus zu einem neuen Menschen wandeln. Geht also auch so 🤣.

Ich möchte nicht länger ruhen und überlege welche Entfernung ich heute gehen kann. Wenn ich die ausscheidenden Pilgerfreunde treffen möchte, dann müsste ich heute 1,5 Tagestrecken gehen. Das wären 30,2 km – eigentlich machbar – aber nur eigentlich.

Falscher Ehrgeiz – Wunsch meiner Gedanken: 30,2 km.

Allerdings spricht das Höhenprofil dagegen – zu viel Anstrengung durch Steigungen und Abstiege. Das wäre Selbstzerstörung für meine Sehne und daher werde ich nur eine Wanderung von nur 9,6 km machen. Es ärgert mich, ich möchte gerne etwas weiter gehen, aber alle Herbergen im nachgelagerten Dorf (15 km) haben wegen Corona geschlossen.

Die Realität: ein Steinwurf entfernt: 10,2 km.

Ich wandere bei 4 Grad mit Winterjacke und kurzen Hosen los (dank Zip-off Hosen kein Problem). So lässt sich mein Schienbein neben dem Kühlgel mittels nachhaltiger Windenergie zusätzlich kühlen. Ob es hilft – ich weiß es nicht.

Natürliche Kühlung, läuft!

Ich laufe mit durchschnittlich 4,5 km/h – das ist für mich mit Rucksack recht gut. Allerdings werde ich laufend von anderen Pilgern überholt. Sie bleiben natürlich auch nicht überall stehen, entdecken nicht all die kleinen, schöne Dinge am Wegesrand und müssen auch nicht alle paar Meter Fotos machen. Ich frage mich, ob die zwei Italiener gerade auch das Reh gesehen haben? Trotz dieses Bewusstseins ist es für mich frustrierend immer langsam zu sein.

Ich frage mich, was ist normal – die Langsamkeit, die laufende Dokumentation, wie auch mein Blog hier – oder einfach nur den Weg für sich selbst zu gehen. Die „Roadrunner“ ziehen ihren Weg durch, dokumentieren ausschließlich mit ihrer Erinnerung und die ist vergänglich – auch teilen sie ihre Erfahrung nicht. Aber was ist die richtige Mischung? Ich weiß es nicht.

Als gefühlt „Getriebener“ ertappe ich mich immer wieder dabei, wie ich zurückblicke und schaue ob der nächste Pilger naht um mich zu überholen. Das treibt mich unnötig „schnell“ voran, denn ich habe bei den wenigen Kilometern wirklich keine Not. Ich sollte besser mein Schienbein schönen. Aber ich kann es nicht lassen, ich lasse mich – unnötig – von meinem Inneren treiben!

Meinem Ehrgeiz zum trotz mache ich erst mal eine Pause. Währenddessen kommt ein Mann aus Norwegen vorüber und frägt mich, ob alles gut bei mir sei. Ich sage „ja“ und erzähle von meinem kleinen Maleur am linken Schienbein. Auch er meint, dass es völlig normal sei, dass man eine Knochenhautentzündung auf dem Camino bekommt. Es sei ungefährlich, kann aber sehr Schmerzhaft werden und die Ursache liegt – wie Heidi schon sagte – darin, dass ich zu wenig trinke. Die Knochenhaut und das Schienbein trocknet dadurch aus, sagt er.

Ich trinke zur Zeit knapp zwei Liter und werde das Volumen nochmals steigen – 1 Liter auf 5 Kilometer sind mein neues Ziel (zum Glück Wasser und kein Benzin). Ich nehme also mein Ingwer-Wasser und eine Dose Monster und setze an – Prost!

Ob ich meinen falschen Ehrgeiz fürs Wandern auf dem Camino ablegen werde oder ob er Teil meiner Persönlichkeit bleibt? Wir werden sehen.

Ich schreibe der „Hospitalera“ Heidi einen Zwischenstand über mein Schienbein und dass ich ab morgen wieder Vollgas geben möchte. Sie meint: „Genieß den Weg, schau links und rechts und nimm Dir die Zeit, die Du brauchst! Ich glaube mit Vollgas bist du bisher im Leben unterwegs gewesen …!“. Damit hat sie völlig Recht. Sie rät mir daher „Nimm Dir die Zeit, die Du brauchst und sieh es als beste Investition in Dich selbst!“ und dann nennt sie mich vermeintliche Schnecke einen „Formel1-Pilger“ der gerade im „Safety-Car“ sitzt und meint „… du weißt, überholen führt zur Disqualifikation!“. Die Metapher ist so deutlich, wie ich es brauche – Danke!!

An der Herberge angekommen. „High Noon“ – ist auch zu früh!

Um 12:00 Uhr Mittags treffe ich an der städtischen Herberge in „Hornillos del Camino“ ein, ich will eintreten und muss erfahren, dass ich eine Stunde zu früh angekommen bin. Ich muss warten. Ein willkommener Mittelfinger an meinen Ehrgeiz – das musste so sein und ich schmunzle kräftig in mich hinein – und so „büße“ ich meinen falschen Ehrgeiz bei einem Kaffee mit Ingwer-Wasser in einer Bar ein.

13:03 Uhr starte ich einen neuen Versuch – dieses Mal mit Erfolg. Der freundliche Mann am Empfang erzählt mir seine Geschichte der Entschleunigung: er lebt im Sommer in Ibiza auf der Insel „Formentera“ und verkauft am Strand Ohrringe und Schmuck. Dort besitzt er ein kleines Haus. Im Winter ist auf der Insel alles geschlossen und daher reist er auf den Jakobsweg. Dort arbeitet er in öffentlichen Non-Profit-Herbergen als Voluntär, d.h. er arbeitet ohne Bezahlung und bekommt im Gegenzug Unterkunft und Proviant gestellt. Er geniest sein Leben jeden Tag, er putzt und macht Frühstück für die Pilger und wandert nach 16:00 Uhr vor sich hin. Seine Ausstrahlung lässt sich an Sympathie, Entspannung und erfülltem Leben kaum überbieten.

Nach diesem interessanten Gespräch gehe ich Duschen. Meine heutigen, beiden Zimmergenossen – die zwei Roadrunner aus Italien – liegen schon im Bett, schlafen tief und furzen – danke!

Aber gut, was macht das für einen Sinn, sie stehen früh auf, rennen die Strecke ab, um dann den halben Tag zu verschlafen. Hatte ich nicht letzt geschrieben, dass man seine Ressourcen weise einsetzen soll? Dieses Bildnis der Roadrunner rundet auf jeden Fall meine Erfahrung für heute ab – danke liebes Karma für diesen großartig langsamen Tag.

#Tag 17: Im Paradies

Meine Herberge „Albergue de Casa de Beli“ ist der absolute Hammer. Sie ist wunderschön eingerichtet und hat eine moderne Bar und ein Restaurant. Es gibt Menü von der Karte (über QR-Code abrufbar), dazu unbegrenzt Eis für meine Knochenhautirritation, schnelles WLAN und sie hat kaum Besucher, da sie direkt nach „Burgos“ strategisch ungelegen liegt.

Schlafraum der Herberge „Albergue de Casa de Beli“ – er soll heute mein Einzelzimmer bleiben. Luxus pur!

Entsprechend ist das Herbergszimmer für 10 Euro/Tag quasi ein Einzelzimmer und das Pilgermenü gibt es für 11 Euro, nur ein Stockwerk tiefer. Ein Frühstück mit leckerem Kaffee, frisch gepressten Orangensaft und einem Croissant kann sich für 4,50 Euro sehen lassen.

Ich habe die Nacht neben einem sehr netten älteren Spanier (ca. 70 Jahre) verbracht, der den Camino mit dem Mountainbike befährt. Wir verständigen uns über Google-Translate mit Vorlesefunktion. Seine Tochter – so erzählt er mir stolz – studiert in Deutschland seit zwei Jahren und ich schicke ihr, seinem Wunsch entsprechend, eine deutsche Sprachnachricht und er ist überglücklich. Als er unser Zimmer verlässt, schenkt er mir gesalzene Mandeln – sie verleihen Bärenkräfte sagt er.

Das ist gut, denn wer weiß ob ich neben riesigen Hirschen – die Kühe sind – auch auf Bären, als weiße Brieftauben verkleidet, treffe? Dabei fällt mir wieder ein, dass ich hier noch kein Wild gesehen habe. Wovon sollten sich da – die hier angeblich lebenden Wölfe – ernähren? Sie werden wohl kaum zum Abendessen in den Dönerladen im Dorf einkehren oder doch?

Egal – zurück zur Realität. Nach dem Frühstück komme ich in das Gespräch mit einer circa 75-jährigen älteren Dame die bereits 700 km durch Frankreich gewandert ist. Sie ist seit November unterwegs und lässt den Camino dieses Mal sehr langsam angehen – sie ist Glücklich. Es ist ihr zweiter Camino Francés, erzählt sie mir. Sie hat den ersten Camino mit sehr viel Schmerz und Schmerzmittel durchlaufen und hat dabei gelernt, auf den Schmerz zu hören. Deswegen hat sie gänzlich auf Schmerzmittel verzichtet und rät mir langsam zu machen, da man so insgesamt schneller ist. Je mehr die Stellen gereizt sind, um so länger dauert der Heilungsprozess.

Was sie sagt, ist nichts unbekanntes, aber die Intensität ihrer Aussage zu diesem Zeitpunkt hat ein anderes Gewicht. Ich erkenne meine Gedanken vor dem Frühstück wieder und nun stehe ich hier, schreibe meine Notizen in diesen Blog. Der Rucksack ist gepackt und die Schuhe sind geschnürt – nur der Schlafsack wartet noch darauf gerollt zu werden.

Ich überlege, 469km (Sillian ist schon 100km weiter) vom Ziel entfernt, hin und her. Ich entscheide – der Schlafsack darf weiter ruhn! Hier im Pilgerparadies werde ich einen Tag verweilen und die Knochenhautentzündung darf weiterziehen.

Die ältere Dame erzählte mir bei unserem Gespräch davon, dass sie sich öfters verlaufen hat. Darauf hin zeigte ich ihr die „Camino Ninja APP“ mit deren Hilfe sie nicht nur die Tagesplanung ihrer Wanderrouten (inklusive der Verfügbarkeit der Herbergen) durchführen, sondern auch jederzeit sehen kann, ob sie sich auf dem Camino befindet. Sie freut sich und installiert die App.

Es ist schon erstaunlich, da treffen sich zwei Menschen im Vorübergehen, tauschen für nicht mal 5 Minuten ihre Erfahrungen aus und beeinflussen ihre Zukunft gegenseitig wesentlich. Gracias y Buen Camino!

Bar/ Restaurant der Herberge „Albergue de Casa de Beli

Ich denke nach über das was Hugo gestern sagte. Er meinte in Spanien sind 80-90 % der Menschen sehr freundlich und hilfsbereit, in den großen Städten ist es umgekehrt. Warum verlieren viele Menschen untereinander den Respekt oder die Würde? Ist das überhaupt die richtige Frage? Warum nimmt die Distanz zu oder Hilfsbereitschaft untereinander mit der Zahl der Lebewesen ab? Hat es etwas mit reduziertem Verantwortungsbewusstsein zu tun, da man in der Masse meint es würde sich schon wer anders kümmern? Es hat sicherlich etwas mit Anonymität zuntun – dem Fehlen der Zuordnung einer Person zu einer von ihr ausgeübten Handlung. Wie auch immer, es ist schade!

Adiós y muchas conversaciones emocionantes la próxima vez!

Am Nachmittag bekomme ich die für mich traurige Nachricht, dass zwei aus der neuen Grupe den Camino abgebrochen haben. Sie sind 1,5 Tagesmärsche entfernt und haben aufgrund ihrer Wasserblasen und des nahenden Regens – für dieses Mal – die Freude an der Teilstrecke ihres Caminos verloren. Ich bin mir sicher, dass sie es mit Leichtigkeit nehmen. Es ist für sie keine Schande, kein Versagen sondern einfach eine weitere Chance für einen weiteren Marsch. Ich hoffe sehr auf ein Wiedersehen, auf dem Camino (sie verweilen 2 Tage) oder in Barcelona.

Ich selbst bin auch noch nicht über den Berg. Das Bein ist am Abend noch immer etwas geschwollen, hart und heiß, aber wesentlich weniger als nach einem Tagesmarsch. Die Pause hat gut getan ❤️‍🩹 – ob es ausreicht werde ich sehen …

#Tag 16: eine Frage der Perspektive

Ich telefoniere mit Heidi (die erfahrene Pilgerin und gute Seele aus dem Internet) und Frage um deren Rat wegen meiner Knochenhautentzündung. Sie meint, es sei völlig normal, dass man auf dem Weg eine Knochenhautentzündung bekommt. Ich soll so viel wie möglich trinken, getrockneten Ingwer kauen und eine Anikasalbe auftragen. Ebenso den Fuß mit einem „Gel Fria“ kühlen und das Gewicht meines Rucksacks um 1-2 kg reduzieren – „Balast abwerfen – auch Menthal“ sagt sie.

Gesagt, getan – zumindest physisch wird nach dem Aufwachen aussortiert: Blasenpflaster, unnötiger Vorrat an Bandagen, Thermounterwäsche, Handschuhe, ein paar Mitbringsel und ein paar Erdnüsse treten den Heimweg an. Dabei ist auch – schweren Herzens die Thermosflasche, welche ich von Sany – meiner Freundin – extra für meinen Camino bekommen habe. Sie wiegt leer 630 Gramm und daher muss das mir werte Andenken zugunsten meiner Gesundheit weichen.

„Zur Schonung meiner Gelenke, soll ich den Rucksack umpacken“ sagt sie. Ich hatte bislang gelernt, dass die schwereren Utensilien nach unten gepackt werden. Jetzt sollen die schwereren Dinge an den Rücken in Nähe der Schulterblätter möglichst Körpernah gepackt werden. Die Perspektive verschiebt sich von „oben und unten“ hin zu „Körpernah und Körperfern“. Ich will es probieren und stelle fest, dass nach der Gewichtskorrektur nicht mehr viel schweres übrig ist – das ist auch gut so. Das Schwerste sind die Medikamente aufgrund der vielen Errungenschaften wie Salben und Tinkturen für meine Blessuren.

Nach dem inzwischen üblichen Besuch der Apotheke ging es gestern Abend mit Alexandra und Hugo zum Abendessen in ein typisch spanisches Restaurant.

Wieder vereint – unsere Wandergruppe, die den Tag als Freiheit liebt und abendlichen Austausch sucht.

Ich habe im Restaurant eine regionale Spezialität genossen – eine außergewöhnliche Mixtur von Blutwurst, künstlichem Glasaal, Ei, Speck, Kartoffeln und Knusperbrot. Dazu gab es ein Maß Bier aus einem Wasserkrug.

Sehr empfehlenswert die Spanische „morcilla“

Während unserem Beisammensein führten wir sehr intensive Gespräche über den Camino – mit Google-Taranslate. Ich stellte die Hypothese in den Raum, dass der Weg von Alexandra und Hugo nicht zu einer außerordentlich, intensiven, persönlichen Erfahrung führen kann, da die Intensität der Probleme geringer ist (man schont sich mehr) und die Dauer der Probleme womöglich zu kurz ist und so womöglich weniger Grenzerfahrung den persönlichen Wandel treibt.

Hugo meint, ich würde den Camino völlig falsch verstehen. Ich sehe ihn rein physisch, man müsse nach meiner Interpretation über das Leid des Weges seine Persönlichkeit verändern. Er meint, es geht nur um die Erfahrung, die Inspiration über andere Perspektiven mit gleichgesinnten Pilgern. Er hat keine Erwartung an den Weg, außer interessante Menschen zu treffen und darüber den eigenen Horizont zu erweitern.

Alexandra sieht es ähnlich, „da die Menschen auf dem Camino eine ähnliche Weltoffenheit haben, können die Menschen das eigene Leben bereichern“ sagt sie. Sie möchte von den unterschiedlichen Perspektiven lernen, den eigenen Horizont erweitern und durch den Austausch wachsen. „Auf dem Camino wird niemand verurteilt, alles ist realer und intensiver, das Genießen, das Leiden, das Leben.“

Interessant, wie unterschiedlich der gleiche Weg erlebt werden kann. Und ja, es geht nicht darum, das eigene Kreuz zu Grabe zu tragen, sondern darum zu wachsen. Ich werde viel darüber nachdenken und meine Perspektive hinterfragen oder zumindest anreichern. Wahnsinn! Was für ein tolles Gespräch – danke 🙏🏻.

Eine kurze Pause vor einer kleinen Kirche am Wegesrand. Es gibt Wasser mit Ingwer und eine dicke Portion Creme für mein Schienbein.

Ich verlasse meine Unterkunft heute erst gegen 12:00 Uhr. Zunächst reichlich Wasser und Ingwer einkaufen. Dazu noch ein paar Mandeln für zu Hause und dann ab zur Post.

Vorab schneide ich den Ingwer mit meinem riesigen Messer auf einem Fenstersims einer Bank. Ich gebe ihn in meine Flaschen und denke dabei an die Serie „Haus des Geldes“ – ob sie schon Verstärkung rufen?

Heute ist mein „Jetzt-werde-zu-zuhause-Tag“ – der Tag an dem physischer Ballast abgeladen wird. Den Rucksack mit dem manthalen Ballast will ich noch finden, um ihn zu leeren.

Meine Rücksendung bringt stolze 2,475 kg auf die Waage und die Post möchte sich mit meiner Paketsendung vergolden. Stolze 41 Euro soll ich für ein kleines Päckchen berappen und so nehme ich das Angebot von Heidi gerne an und schicke es zu ihr nach Spanien (letzte Etappe vor „Santiago di Compostela“) – für „nur“ 19,25 Euro.

Interessant ist die Selbstverständlichkeit dieser Paketsendung – kein einziger Gedanke wurde daran verschwendet, dass ich dort vielleicht niemals ankommen würde. Natürlich nicht! „Ein Urban lässt sich nicht aufhalten“ hat letzt ein guter Freund gesagt und auch der Mexikaner Luis meinte gestern beim Abendessen, dass er sicher sei, dass ich meinen Camino in „Santiago di Compostela“ beenden werde. Schauen wir mal – aber ich tippe auch auf „ja“.

So zurück zur Post – bis ich das Paket verschickt habe dauert es eine Stunde. Die Dame schreibt den Aufkleber, druckt aus, klebt zu, … kein Wunder das es so teuer ist. Denn sie hat freundlicher Weise die ganze Arbeit übernommen. Danke!

Nun geht es endlich Nassgeschwitzt aus der Post – in den Regen – zu meinem Schongang. Ich trage eine Süßigkeit die ich meinen Lieben zu Hause als Überaschung ins Paket packen wollte mit mir herum, da sie nicht mehr ins Paket passte. Was mache ich damit? Ein paar Meter weiter sitzt eine Bettlerin an der kunstvoll verzierten Brücke – ich schenke sie ihr und sie strahlt überglücklich.

Heute geht es aus der wunderschönen Stadt „Burgos“ nur einen kleinen Spaziergang von 11 km weit nach Tardajos“ – eine halbe, gewöhnliche Tagestour. Die Strecke ist totlangweilig, geht wieder an Straßen entlang und macht einfach keinen Spaß.

Selbst die Pause, bei der ich mir eine fettige Pizza gönne macht keinen Spaß. Und der Weg zieht sich endlos.

In der wunderschönen Herberge „Albergue de Casa de Beli“ angekommen, wird ausgiebig geduscht, Wäsche gewaschen und der Fuß den Rest des Abends mit Eiswürfeln gekühlt. Die Schwellungen werden quasi weggefohren ❄️ – so der Plan. Und dann wird nachgedacht … Buen Camino!

Tag 15: Zwangspause mit Karma

Ich habe von meinen spanischen Wandergenossen viel über Spanien erfahren, gelernt wo welche Speisen am Besten sind und welche Region wie tickt. So muss man z.B. in Galicien Oktopus (wird dort kurz gekocht) und Rindfleisch (die Kühe ernähren sich ausschließlich von Mais) essen um in unbekannte Genüsse vorzustoßen.

Rechts oben in Frankreich gestartet und auf dem Weg nach Compostela. Es ist noch ein gutes Stück vor mir. Aber es wird weniger

Da mein Rucksack nicht perfekt sitzt hat mir Hugo – der spanische Gebirgsjäger unserer Gruppe – heute Morgen geholfen ihn so zu optimieren, dass er mit meinem Körper zu einer Einheit verschmilzt. Der Hüftgurt muss oberhalb der Hüfte sitzen (Bauchnabelhöhe), an den Schultern wird er zum Oberkörper gezogen. Er sitzt dann ideal, wenn nichts mehr wackelt und das Gewicht auf der Hüfte lastet. Hin und wieder öffnet man den Hüftgurt und trägt das Gewicht auf den Schultern. Es ist nicht viel anders, aber es macht den entscheidenden Unterschied.

Hugo ist durchtrainiert und erzählt mir, dass ein Scheitern des Caminos nicht schlimm sei. Er selbst läuft ihn – bzw. nur ein kleines Teilstück – mit seiner Freundin zum dritten Mal und war zweimal gescheitert. Er treibt mir damit die Ehrfurcht ins Gesicht: wenn er es ein junger, kerngesunder Gebirgsjäger nicht schafft, wie soll ich es meistern? Ich – ein Bürotieger – der vor dieser Reise noch nie ausreichend auf seinen Körper geachtet hat. Ich beschließe es, den „Camino Francés“ einfach zu schaffen und hake den Gedanken für mich ab.

Ich wandere weiter durch wunderschöne Wälder und plötzlich schallt unmittelbar neben mir in voller Lautstärker der Ruf eines mächtigen Hirsches. Ich versuche den Hirsch im Wald ausfindig zu machen, aber es gelingt mir nicht – es ist eine Kuh 🐄.

Was ist es eigentlich, was das Mindset blockiert? Vier Dinge: 

Erstens: Herausforderungen sind nicht vorhersehbar (die unerwartete Herausforderung liegt vor oder nach der erwarteten und trifft einen immer unerwartet - und hart). Der Weg ist nicht planbar.

Zweitens: verteile deine Ressourcen weise, überambitionierte Ziele bringen keinen Fortschritt. Mache viele Pausen (alle 5km 10 Minuten, Rucksack runter, Schuhe aus - achte auf deinen Körper).

Drittens: reduziere deinen Ballast auf ein Minimum.

Viertens: der Weg ist das Ziel - schaue links und rechts am Wegesrand, lass dir Zeit denn eile bringt dich nicht weiter und du verpasst einen wesentlichen Sinn des Weges.

Ich wandere und mache viele Pausen und der kleine Berg am Anfang de Tages lässt sich einfach überwinden. Ich marschiere voller Elan und wandere einem Dorf entgegen dessen Namen ich auf der Routenplanung gesehen habe. Es geht lange und sehr steil bergab und am Fuße des Berges rappelt meine Uhr pausenlos. Ich sehe nach was der Grund dafür sein könnte und siehe da – ich habe mich verlaufen und darf einen großen Teil des Berges erneut erklimmen. Ich wähle die Abkürzung mitten durchs Feld und mache – auf dem Camino zurück – erst mal eine Pause.

Also Rucksack runter, Schuhe aus und Mandeln rein in den Mund. Als ich die Schuhe wieder anziehen will, bemerke ich wie Stark mein Schienbein geschwollen ist und die Berührung mit dem Finger schmerzt. Ich mache mir Sorgen was das wohl sein könne … aber es bringt nichts, ich will weiter.

Ich achte auf den Schmerz und habe ein ungutes Gefühl. Daher recherchiere ich mit dem Handy im Internet (das ist natürlich ein Fehler). Auf der Suche mit meinen Symptomen und finde eine Knochenhautentzüng. Sie resultiert aus einer starken Reizung der Knochenhaut aufgrund der sportlichen Überbelastung. Sie ist Schmerzhaft, das Bein ist geschwollen, hart, heiß und bedarf einer Wanderpause von 7-14 Tagen und muss unbedingt vollständig verheilen, bevor es weitergeht. Das darf doch nicht wahr sein! Aber wir wissen ja, das Internet ist kein Arzt und das muss sich erst bestätigen.

„Don’t“ or „do“ – das ist hier die Frage! Kommt die nächste Auszeit – mit 7 Tagen wegen einer Knochenhautentzündung (Shin Splint) – oder kann es morgen doch weitergehen?

Ich hatte beschlossen, auf meinen Körper zu achten und die rote, heiße und harte Stelle am Schienbein ist ein klares Zeichen. Daher laufe bis zum nächsten Dorf – ab da geht es die restlichen 8 km ohnehin nur über asphaltierte Wege – neben der Autobahn.

Ich suche nach einem Taxi – per Aufkleber am Laternenmast – im Internet aber die nächsten sind 13 km entfernt – das wird teuer. Bus? Fehlanzeige!

Was nun? Genau bei diesem Gedanken kommt ein weißes Auto um die Kurve. Ich handle spontan: Daumen hoch, Hand rechts raus und zack, die Dame bremst, spricht sogar englisch, fährt nach „Burgos“ und nimmt mich völlig selbstverständlich mit, bis vor ihr Haus.

Sie lässt mich dort an der Bushaltestelle raus und sagt mir, dass der nächste Bus in 5 Min. kommt. Auf dem Weg zum Hotel sehe ich die zwei Koreanerinnen aus dem Bus am Straßenrand laufen. Auf Wiedersehen!

Weitere 10 Minuten später, stehe ich um 1,20 Euro vom Busticket erleichtert, vor der Kathedrale in Burgos. Ich brauche eine Apotheke für eine erste Einschätzung und die hoffentlich erste, schnelle Hilfe bei meinem neuen Problem. Aber es ist Sonntag und die Apotheken haben geschlossen. In einer Nebenstraße sehe ich eine schöne Kirche und beschließe davon ein Foto zu machen.

Direkt neben an – eine Apotheke – geöffnet! Ich beschreibe der Apothekerin mein Problem und sie sagt, ich müsste nur Voltaren und Ibuprofen nehmen und könnte weiter wandern. Was will man mehr? Ich bin als letzter los und als erster angekommen. Ich laufe weiter zur Kathedrale und siehe da, ein Getränkeladen mit Monster-Dosen – soweit das Auge reicht.

So viel Karma, das ist schon fast unheimlich. Nun ab ins Hotel „Urban Burgos“ das Bein kühlen und schonen. Im Hotel angekommen treffe ich Alexandra und Hugo, sie beglückwünschen mich dafür, dass ich meine Tageswanderung „weise“ abgebrochen habe. Hugo hatte das gleiche Problem in seiner beruflichen Laufbahn. Er meint ich muss auf jeden Fall pausieren.

Nun – am Ende entscheidet mein Körper selbst. Ich werde morgen (leider) pausieren und dann weitersehen. Buen Camino!